transfer Ausgabe 01 | 2020

Halbvoll oder halbleer?

Reserven im Stromnetz verfügbar machen

Der Ausbau erneuerbarer Energien wird derzeit weltweit gefördert, die zunehmende Elektrifizierung industrieller Prozesse und der Mobilität vorangetrieben. Man nimmt an, dass dazu ein Ausbau des Stromnetzes unumgänglich sein wird. Um diesen auf ein vertretbares Mass zu begrenzen, drängt es sich auf, vorhandene Potenziale intelligent zu nutzen. ‹Poweralliance› skizziert einen vielversprechenden Ansatz.

Das Dargebot der erneuerbaren Energien, vor allem von Sonne und Wind, schwankt stark. Um diese in die Stromversorgung integrieren zu können, werden künftig hohe Flexibilitäten im Netz benötigt. Nur so kann eine Verlagerung der Stromnachfrage auf Zeiten mit einem hohen Angebot aus der Produktion der Erneuerbaren gelingen. Heute findet dies praktisch nicht statt. Liegt ein Überangebot aus der Wind- und Solarproduktion vor, werden nicht selten die Stromerzeuger vom Netz genommen.

Die Schweiz verfolgt das Ziel, die Stromerzeugung nahezu vollständig zu dekarbonisieren. Durch den damit verbundenen Verzicht auf fossile Energieträger und Atomkraft, muss die regenerative Erzeugung von Strom massiv ausgeweitet werden. Das bedeutet jedoch auch, dass die installierte Erzeugungskapazität das gleichzeitige Verbrauchsniveau um ein Mehrfaches übersteigen wird. Dies stellt eine grosse Herausforderung für das Stromnetz dar. Technologien wie Power-to-Heat (P2H) oder Power-to-Gas (P2G) drängen sich als Problemlöser auf: Einerseits, weil man sie nutzen kann, um überschüssige Energie zu absorbieren, andererseits deshalb, weil sie jederzeit bei Bedarf ihren Stromverbrauch reduzieren können. Will man den notwendigen Netzausbau auf ein vertretbares Mass reduzieren, sind jedoch intelligente Lösungen gesucht, mit welchen sich die entstehenden Potenziale zur Lastverschiebung auch nutzen lassen.

«Mit Poweralliance führen wir brachliegende redundante Netzkapazität einer operativen und damit finanziellen Verwertung zu.»

Yves Wymann, Head Operations Digital Energy Solutions Switzerland, Alpiq Digital AG und Projektleiter von ‹Poweralliance›

‹Poweralliance› will im Netz vorhandene Reserven nutzen

Stromnetze werden so ausgelegt, dass auch die grössten zu erwartenden Leistungsspitzen noch sicher übertragen werden können. Deshalb sind die heutigen Mittelspannungsnetze (Netzebene 5), von einigen wenigen Stichleitungen abgesehen, redundant ausgebaut. Man spricht hier von der ‹(n-1)-Versorgungssicherheit›. Im Grundsatz bedeutet dies, dass beispielsweise selbst beim Ausfall eines Netzstücks das Netz immer noch die prognostizierte maximale Leistung übertragen kann – ohne Unterbrechung der Versorgung. «Das heisst aber auch, dass Ringnetze im Normalbetrieb nur zu maximal 50 Prozent ausgelastet werden. Die andere Hälfte der Netzkapazität liegt brach», erklärt Yves Wymann, Head Operations Digital Energy Solutions Switzerland bei der Alpiq Digital AG und Projektleiter von ‹Poweralliance›.

«Poweralliance verdoppelt praktisch die Kapazität der Netzebene 5 – ohne physischen Ausbau.»

Durch die Verwendung dieser ungenutzten Ressource soll zukünftig der Netzausbau auf der Mittelspannungsebene vermieden, oder zumindest verzögert werden. Koppelt man die Nachfrage an das volatile Stromangebot, so Wymann, könne man durch die erhöhte Nutzung der Netzkapazität die Gesamtwirtschaftlichkeit verbessern und den Einsatz flexibler elektrischer Lasten fördern. So liessen sich leichter Flexibilitäten ins Netz bringen, die sowohl bei der Nachfrage als auch bei der Einspeisung netzdienlich sind.

Zwei ‹unterschiedliche› Lasten

‹Poweralliance› unterscheidet zwei Arten von Lasten entsprechend ihrem Anspruch an die Versorgungssicherheit. Zum einen sind dies ‹unbedingte Lasten›. Diese sind komplett bedarfsgetrieben und müssen damit ‹unbedingt› verfügbar sein. Dazu gehören beispielsweise Produktionsmaschinen, Beleuchtung oder Kommunikationssysteme.

Die zweite Kategorie sind die ‹bedingten Lasten›. Dazu zählen beispielsweise die Technologien zur Sektorkopplung und Speicherung: Photovoltaik, Windenergie, Elektrolyseure (P2G), Batteriespeicher oder auch die Elektromobilität. Sie tolerieren eine geringere Versorgungssicherheit, ihr Einsatz ist vor allem strompreisgetrieben. Risiken, welche im seltenen Falle eines Versorgungsunterbruchs entstehen könnten, sind eher gering.

Dies macht sich ‹Poweralliance› zu Nutze: «Die Idee ist, dass unbedingte Lasten durch den (n-1)-sicheren Teil des Mittelspannungsnetzes versorgt werden, während bedingte Lasten aus der heute unzugänglichen Redundanz bedient werden», erklärt Yves Wymann.

Mehr IKT notwendig. Und ein anderes Tarifmodell!

Damit ein intelligentes, netzdienliches Lastmanagement gelingen kann und die bedingten Lasten die Netzkapazität nicht überschreiten, benötigen die Verteilnetzbetreiber Informationen über deren Einsatz. Das ist per dato nicht der Fall. ‹Poweralliance› löst dies geschickt: «Der netzdienliche Einsatz der Flexibilitäten erfolgt durch den Kunden selbst», erklärt Wymann den Ansatz. «Der Netzbetreiber gibt lediglich die Randbedingung vor: Er bietet Kapazitäten an und gibt abhängig davon Fahrpläne frei oder weist sie mit dem Hinweis auf notwendige Leistungskürzungen zur Änderung zurück.»

Dazu brauche es jedoch für die bedingten Lasten, so Wymann, auch ein anderes Preismodell. Neben den weiterhin vom Markt bestimmten Energiepreisen soll für die weiteren Kostenanteile, also für Netz sowie Steuern und Abgaben, ein günstigerer Tarif zum Tragen kommen: «Damit ist für den Nutzer dann auch die ‹nur› n-sichere Versorgung für die preisgetriebenen Flexibilitäten, wie Batteriespeicher oder Technologien zur Sektorkopplung, akzeptabel.»

Noch bestehen aber zum einen die Rahmenbedingungen für eine Tariffreigabe nicht, diese müssten erst geschaffen werden. Zum anderen ist heute die Elektrifizierung industrieller Prozesse oftmals wirtschaftlich nicht sinnvoll. Entgelte, Abgaben, Umlagen und Steuern auf Strom sind wesentlich höher als beispielsweise auf Erdgas. «Wir weisen in unserem Schlussbericht darauf hin, dass ein neues Tarifierungsmodell notwendig ist, bei dem Steuern, Abgaben und Umlagen auf Energie die Dekarbonisierung fördern», bestätigt Yves Wymann. Die absehbaren Kosten für die notwendigen Informations- und Kommunikationstechnologien (IKT), welche mit dem Poweralliance-Ansatz entstehen, sind heute schon bei der Tarifgestaltung anrechenbar. Die heutigen Regularien lassen jedoch Zusatzeinnahmen des Netzbetreibers durch die bessere Auslastung der redundanten Netzkapazität nicht zu. Sie müssten entsprechend umgewälzt werden können, was eine finanzielle Beanreizung unterbindet.

«Es braucht Massnahmen auf Seiten der Politik und der Gesetzgebung. So könnte man ökonomische Anreize schaffen, mit Strom aus erneuerbaren Energien in die Dekarbonisierung zu investieren.»

Ein elegantes Konzept

Fachleute sind sich darüber einig, dass die Elektrifizierung des Wärme- und Verkehrssektors auf Basis erneuerbarer Energien eine Grundvoraussetzung ist, um den Klimawandel zu begrenzen.

Mit ‹Poweralliance› erhalten elektrische Lasten, welche diesen Systemwandel begünstigen, einen wirtschaftlichen Vorteil. Bei vorhandener Netzkapazität helfen sie, Überschussstrom zu absorbieren und verhindern so die Zwangsabschaltung der Stromerzeugung aus erneuerbaren Energien. Einnahmen aus dem bisherigen ‹System› werden praktisch nicht tangiert, hingegen entstehen aus der erhöhten Netznutzung mit bedingten Lasten zusätzliche Erträge.

«Poweralliance schafft den notwendigen finanziellen Spielraum zur Förderung der Sektorkopplung.»

«Und auch volkswirtschaftlich betrachtet könnte ‹Poweralliance› zum Erfolgsmodell werden: Brachliegendes Vermögen wird genutzt und durch den intelligenten Einsatz von IKT lassen sich die Netzausbaukosten auf ein erträgliches Mass reduzieren», fasst Yves Wymann zusammen. So einfach: Im Grunde ist das bereits vorhandene Übertragungsnetz nur halbvoll – oder eben doch meist halbleer.

Bildnachweis: Blue Planet Studio/stock.adobe.com (Titelbild), Poweralliance

Power Alliance

Power Alliance ist ein durch das Bundesamt für Energie BFE, dem deutsche Projektträger Jülich PTJ und der österreichischen Forschungsförderungsgesellschaft FFG gefördertes trinationales Projekt unter der Leitung der Schweizer Alpiq AG. Am Projekt mitgewirkt haben drei Schweizer Hochschulen (FHNW, ZHAW und HSLU), verschiedene Technologiepartner sowie ein Schweizer und ein deutscher Verteilnetzbetreiber mit ihren Pilotkunden.

Weitere Informationen enthält der im November 2019 erschienene Schlussbericht, der beim BFE eingesehen werden kann.