transfer Ausgabe 02 | 2021

Was heisst schon ‹digital›?

Ökonomie, Chancen und Grenzen für die Abwasserreinigung

470 000 angeschlossene Einwohnerinnen und Einwohner, ein jährliches Klärvolumen von durchschnittlich 70 Millionen Kubikmetern Abwasser: Werdhölzli ist das grösste Klärwerk der Schweiz. Die Menge an täglich anfallenden Daten in den verschiedenen Bereichen der Zürcher Anlage ist enorm. Nur: Wie kann Digitalisierung dabei helfen, sie in Wissen zu übersetzen? Um zukünftig wertvolle Ressourcen zu sparen, oder um zu beurteilen, was bereits genutzt wird und wo es noch das eine oder andere zu tun gäbe? Daniel Rensch, Leiter des Klärwerks Werdhölzli, hat dazu eine klare Meinung. ‹Digital› sei nicht gleich ‹digital›. Wir haben mit ihm gesprochen.

Digitalisierung ist in aller Munde. Die Abwasserreinigungsbranche stellt hier keine Ausnahme dar. Bei aller Euphorie solle man aber die Ziele im Blick behalten und hinterfragen, was man denn darunter konkret verstehen möchte und wie weit man damit gehen wolle, sagt Daniel Rensch: «Dort wo am lautesten nach Digitalisierung gerufen wird, ist sie meist schon sehr weit. Das übersieht man gerne.» Die ‹technische Digitalisierung› im Sinne der Automatisierung und Vernetzung sieht er in der Schweiz schon als recht weit fortgeschritten. Auch bei weit kleineren Anlagen als Werdhölzli seien Klärprozesse häufig weitestgehend digitalisiert: «Ein Klärwärter kann sich den momentanen Anlagenbetrieb bequem auf dem Bildschirm des Prozessleitsystems ansehen und analysieren, wenn er will von zuhause aus. Bei Bedarf kann er von dort aus eingreifen und muss nicht zum Aggregat gehen. Viele Prozesse sind durch hochstabile Regelkreise automatisiert, der Betrieb läuft entsprechend von selbst und ist kontroll- sowie wartungsarm. Pumpen, Gebläse, Dekanter und andere Geräte schalten automatisch und zuverlässig ein oder aus. Darauf verlässt man sich, das wird nicht mehr hinterfragt.» Ob ein noch höheres Level dieser digitalisierten Automatisierung den Alltag auf der Kläranlage weniger komplex macht, sei schwierig zu beantworten.

«Wir wissen, was unsere Anlage über Tage und Monate macht. Wir wissen aber noch nicht gut genug, was über den Tag hinweg genau passiert.»
 

Daniel Rensch, Leiter Geschäftsbereich Klärwerk Werdhölzli, ERZ Entsorgung + Recycling Zürich

Potenziale erkennen

Die gezielte Nutzung von Daten zum Aufbau von Wissen aus der unermesslichen Flut, welche Sensoren in den Aggregaten, Messsonden und Analysegeräten laufend erzeugen, stecke hingegen wirklich noch in den Kinderschuhen, meint Rensch: «Wir wissen recht gut, was unsere Anlage über Tage und Monate leistet. Wir wissen aber noch nicht gut genug, was über den Tag hinweg im Stundenverlauf genau passiert. Und es ist auch schwer, Ursachen zu identifizieren, wenn die Anlage mal nicht so gut läuft.»

Gerade in der Modellierung der Dynamik und des Reinigungsprozesses einer Abwasserreinigungsanlage sieht er deshalb ein immenses Potenzial für die Zukunft, um Ressourcen zu sparen – vor allem elektrische Energie. Kläranlagen sind mit etwa einem Fünftel des Gesamtenergiebedarfs der grösste kommunale Energieverbraucher. Aus ökonomischen wie auch ökologischen Gründen gelte es, die energetischen Optimierungspotenziale zu erkennen und diese gezielt in den Betrieb der Kläranlage einfliessen zu lassen.

Mit Blick auf die Energiewende müsse man sich Fragen zur intelligenten Nutzung der elektrischen Energie stellen, wenn diese im Überschuss und damit preiswert vorhanden ist: Beispielsweise, ob man im Tagesverlauf die Belüftung der Biologie nicht wie heute vor allem an die anfallende Schmutzstofffracht anpasst, sondern auch besser an Stromüberschüsse angleichen kann, also wenn es mittags sehr viel Energie aus Photovoltaik gibt. «Heute besteht die Schwierigkeit mit einer Belüftung in Abhängigkeit des Energie-Angebots darin, dass wir den Zulauf nicht beeinflussen können. Um zu erforschen, ob und wie so etwas überhaupt möglich wäre, benötigen wir ein besseres Verständnis aus den hochaufgelösten Daten. Und das haben wir noch nicht», sieht der Fachmann eine der zukünftigen Aufgabenstellungen. 

Optimierung im Bau – und in der Verwaltung

«Wenn wir die Dynamik der Anlage besser verstehen, die Grenzen besser kennen, dann können wir sie gezielter betreiben – und auch gezielter bauen», meint Rensch. Die geschickte Dimensionierung und Nutzung von Speicher könnte es beispielsweise ermöglichen, Reinigungsprozesse zeitweise abzustellen und in Folge ‹kompakter› zu reinigen. Solches Wissen helfe ausserdem, um sich auf die zunehmenden Extremereignisse wie Starkregen besser vorzubereiten. Das bedeutet aber auch eine Ausweitung des Blickfelds auf das gesamte Kanalsystem, nicht nur End-of-Pipe bei der Abwasserreinigung: Wie können Speichersysteme genutzt oder verändert werden? Wo muss aufgrund der Bevölkerungsentwicklung oder Niederschlagsbelastung zugebaut werden, wo kann man auf einen Bau verzichten? Wie viel Mischwasser ist bei Überläufen durch Extremregenfälle für das Gewässer verkraftbar? Wann können wir die ARA hydraulisch stärker belasten, also mehr Niederschlagsabwasser reinigen, statt es zu speichern oder zu entlasten? Ein Millionenpotenzial, so Rensch, wenn man nicht einfach nur ‹gross› und mit ‹ausreichend Reserven› errichte, sondern genau dort, wo es unabdingbar sei.

Optimierungspotenzial durch die Digitalisierung sieht Rensch auch in den Bereichen abseits der eigentlichen Klärprozesse der Anlage oder dem Kanalsystem, beispielsweise in der Verwaltung, dem Berichtswesen, in der Kommunikation mit den Behörden. Dort existierten noch viele ineffiziente Medienbrüche – auch digitale, durch unterschiedliche proprietäre Software oder nicht normierte Schnittstellen. Gewünscht wären intelligente Systeme, die auf einen regelmässig aktualisierten, bereinigten und geprüften Datensatz zugreifen können und nur noch die Daten abfragen, welche für die aktuelle Fragestellung nötig und nicht vorhanden sind. Stattdessen gehe im Moment mit fortschreitender Digitalisierung auch eine zunehmende ‹Formularisierung› und auch Formalisierung einher, die seiner Auffassung nach schliesslich eine Überabfrage von immer denselben Daten und eine Überdefinition von Prozessen nach sich ziehe: «Das Formular, in dem ich nur deshalb alle Felder ausfüllen muss, weil der Computer darauf besteht und damit nicht Grau, sondern nur Schwarz oder Weiss sieht, das nervt doch einfach.» Ein Papierformular durch ein gleiches PDF-Formular zu ersetzen, verstehe er nicht als intelligente Digitalisierung. Insbesondere wenn der Empfänger des Formulars die Daten dann in sein System von Hand übertragen müsse, was ein nicht selten gesehener Vorgang sei.

Datennutzung neu beurteilen

Unsicherheiten bestehen laut Rensch auch immer noch darin, welche ‹Werte› man wirklich brauche, um einen optimalen Betrieb einzustellen. 

Was man messen muss zur Dokumentation oder aufgrund der Nachweispflicht, und was man eigentlich zur Optimierung des Betriebs benötige, sei mitunter nicht dasselbe. Oftmals stünden Aufwand und Ergebnis in keinem Verhältnis, da Wartungsaufwände der Messungen hoch seien oder deren Verlässlichkeit ständig in Frage stünde. «Man sollte nicht einfach alles zu messen versuchen, um es kontrollieren und beurteilen zu können. Wir müssen die Daten aus brauchbaren Messungen intelligent nutzen», unterstreicht Rensch. In mathematischen und analytischen Methoden sieht er hingegen grosse Chancen, aus den erfassten Daten neue Informationen zu gewinnen, welche man im Labor nicht isoliert ‹herausmessen› kann. 

Klarheit durch den Zwilling

Um an diese wertvollen Informationen zu gelangen, entwickelt die ARA Werdhölzli aktuell gemeinsam mit Rittmeyer einen sogenannten ‹digitalen Zwilling› der Anlage. Die Idee ist, eine virtuelle Klärstrasse zu errichten, bei der die Reinigungsprozesse mittels mathematischer Modelle abgebildet werden, und die mit Echtzeitdaten aus der Anlage gefüttert wird. Sie soll dabei helfen, die Abbauprozesse besser zu verstehen, verschiedene Betriebsstrategien zu testen oder die Grenzen der Anlage zu ermitteln. «Damit betreten wir komplettes Neuland und es gibt noch viele Herausforderungen bis zur Umsetzung: Können wir die Prozesse überhaupt in Echtzeit genügend gut abbilden? Sind die Modelle genügend komplex, um die Prozesse abzubilden? Haben wir die richtigen Daten, um den Zwilling zu füttern?» Würde der digitale Zwilling aber funktionieren, so könnte das Klärwerk u. a. Klarheit darüber erlangen, wie sich die Anlage in Situationen mit hoher oder geringer Fracht verhält und daraus eventuell auch bauliche Fragen einer Erweiterung klären. 

Rensch ist zuversichtlich, dass die Digitalisierung und konkret der digitale Zwilling zukünftig eine grosse Hilfe für Betreiber sein werden. Und dass sich dadurch nicht nur im Betrieb, sondern auch bei der Ausbildung, aber auch bei neuen Bauwerken viele Ressourcen sparen lassen, da man immer mehr Wissen über die real benötigten Reservekapazitäten erhalte. «Da ist aber noch viel Zukunftsmusik dabei», meint er. 

Bildnachweis: iStock/gonin (Titelbild), ERZ Entsorgung+Recycling, Zürich