Jung und digital
Wie Wasserwirtschaft auch morgen gelingen kann
Die Digitalisierung kann für die Ver- und Entsorgungs-Branche eine riesige Chance darstellen – vor allem wenn es gelingt, junge, digitalaffine Fachkräfte einzubinden. Dessen sind sich André Hildebrand, Geschäftsführer, und Boris Diehm, Vorsitzender des Landesverbands Baden-Württemberg der Deutschen Vereinigung für Wasserwirtschaft, Abwasser und Abfall DWA, sicher. Unternehmen müssten sich dafür jedoch ernsthaft mit der Digitalisierung beschäftigen und bereit sein, ihr Wissen zu teilen. Überdies werde dafür Fachpersonal benötigt, das sich die Technologie zu Nutze macht und über das entsprechende Wissen für die Aufgaben von morgen verfügt. In Baden-Württemberg verfolgt man dazu verschiedene Ansätze.
Die DWA vereint die Fach- und Führungskräfte der Wasser- und Abfallwirtschaft in Deutschland unter ihrem Dach. Die unabhängige Vereinigung zählt rund 14'000 Mitglieder und setzt sich für eine nachhaltige Wasserwirtschaft sowie die Förderung von Forschung und Entwicklung ein. Dabei biete die Digitalisierung und die schnellen Fortschritte bei Software, Hardware, Vernetzung und künstlicher Intelligenz massives Optimierungspotenzial bei Anlagen, insbesondere bei ganzheitlichen Ansätzen, so André Hildebrand. Umwelt und Menschen profitierten davon gleichermassen. Zudem könnten damit Ressourcen und Zeit eingespart werden.
Um dieses Potenzial zu nutzen, sei es einerseits nötig, technische Rahmenbedingungen zu etablieren – Stichwort Breitbandausbau und Mobilfunkabdeckung – und der Sicherheit von informations- und kommunikationstechnischen Systemen in den kritischen Infrastrukturen eine verstärkte Aufmerksamkeit zu schenken.
«Wir laufen in der Wasserwirtschaft in eine demografische Falle.»
André Hildebrand, Geschäftsführer des DWA-Landesverbands Baden-Württemberg und Vorstandsmitglied im Digital Water Institute
Vor allem aber benötige man dafür dringend mehr Fachkräfte in der Branche. «Wir sehen in Baden-Württemberg, dass wir auf eine grosse Lücke zulaufen. Viele Fachkräfte aus allen Hierarchien gehen in den nächsten Jahren in den Ruhestand, und wir werden das weder in der Ausbildung noch in der Einstellung kompensieren können», ist Boris Diehm überzeugt. Zudem erweitere sich das Leistungsportfolio von Betreibern aufgrund strengerer Umweltgesetzgebungen. Deshalb müssten Bildung, Unternehmen, Behörden, aber auch die Mitarbeitenden selbst reagieren, um diesen Entwicklungen Rechnung zu tragen.
Ausbildung anpassen
Das Thema lebenslanges Lernen propagiert die DWA in Baden-Württemberg seit langem. Der Ausbildung messen die beiden DWA-Kollegen zukünftig jedoch noch eine deutlich höhere Bedeutung bei als bisher: «Die Digitalisierung fordert eine Anpassung der Ausbildungsstandards. Das Personal muss mit neuen Bildungskonzepten dazu befähigt werden, in vernetzten Strukturen zu denken. Daher sollte man ein besonderes Augenmerk auf Inhalte legen, die das systemische Denken fördern», stellt Boris Diehm klar. Erst kürzlich veröffentlichten Kienbaum und Stepstone eine Studie, die sich damit beschäftigt, wie das Lernen in und für die Zukunft aussieht. Diese zeige zudem auf, dass der Förderung der ‹digitalen Kompetenz› bei künftigen Fach- und Führungsaufgaben in allen Institutionen und Disziplinen eine ganz besondere Bedeutung zukommt, ergänzt André Hildebrand. Passend dazu befindet sich der Ausbildungsrahmenplan für umwelttechnische Berufe in Deutschland aktuell in Überarbeitung. Problematischer als die Ausbildungsinhalte ist aus Sicht der Experten jedoch der grundsätzliche Mangel am Interesse für die Branche bei potenziellen Fachkräften.
Interesse wecken
In den letzten Jahren stelle man einen Trend fest, dass sich weniger Fachkräfte ausbilden lassen. «Dadurch können wir auch nicht mehr genügend Meisterpersonal akquirieren», sorgt sich Boris Diehm. Der Vorsitzende des Landesverbands sieht das jedoch als Anlass: «Wir müssen besser werden in der Aussendarstellung unserer Aufgaben. Junge Menschen möchten heute einen Sinn in ihrer Aufgabe sehen. Da haben wir doch einen idealen Stand: Was gibt es denn Schöneres als zu sagen ‹Ich bin für sauberes Wasser zuständig in einem hochmodernen Arbeitsumfeld!›?»
«Wir haben auf der einen Seite das nachhaltige Produkt Wasser, und auf der anderen digitalaffine junge Leute, die eine sinnstiftende Aufgabe suchen. Das ist eine Riesen-Chance!»
Boris Diehm, Vorsitzender des DWA-Landesverbands Baden-Württemberg
Man müsse deshalb klar aufzeigen, welche Möglichkeiten die Wasserwirtschaft mit innovativen Arbeitsmethoden mit sich bringt und das heute oft noch verstaubte Bild der Branche korrigieren. Das helfe ebenso dabei, die Selbstwahrnehmung der Branche zu ändern und den Stolz auf die eigene Aufgabe zu erhöhen.
Mit seiner Nachwuchskräfte-Initiative ‹Wasser alles klar› (www.wasser-allesklar.de) möchte Baden-Württemberg das Berufsbild deshalb attraktiver machen. Die Beteiligung ist grossartig: Über 400 der 600 Kläranlagen in Baden-Württemberg sind Teil der Initiative und machen gemeinsam die Wasserwirtschaft besser sichtbar. «Unser Ziel ist es, das Fremd- und Selbstbild der Branche stetig zu entwickeln – in der Fläche, und nicht nur an einzelnen Punkten. Diese Anzahl an Betreibern erzeugt eine Aufmerksamkeit, die kaum eine andere Branche erreichen kann. Gepaart mit starken Aussagen zu den Themen Wasser und Nachhaltigkeit können wir damit viel bewirken», ist André Hildebrand überzeugt.
Fortschritt fördern
Die Betriebe seien jedoch auch selbst gefordert, in ihre Mitarbeitenden zu investieren, um das Thema Digitalisierung voranzubringen. Gerade für kleine Betriebe sei es wichtig, die Weiterbildung ihrer Mitarbeitenden selbst in die Hand zu nehmen und ihnen neue Fähigkeiten für den Umgang mit digitalen Werkzeugen beizubringen, weiss der Geschäftsführer: «IT-Experten landen nur selten in der Ver- und Entsorgungsbranche, und wenn dann eher bei grösseren Unternehmen als bei den kleinen.»
«Gerade für kleine Betriebe ist es wichtig, die Weiterbildung ihrer Mitarbeitenden selbst in die Hand zu nehmen.»
André Hildebrand
Man müsse sich dabei genau überlegen, welche Kompetenzen das eigene Personal zukünftig benötigt, um die digitale Transformation zu meistern. Eine individuelle Digitalisierungsstrategie im eigenen Unternehmen könne hierfür sehr hilfreich sein. André Hildebrand: «Die benötigten Kompetenzen für den Betrieb muss man sich immer wieder vor Augen führen, bevor man eine grössere Investition in digitale Tools tätigt. Das Werkzeug selbst macht nur einen kleinen Teil aus.»
«Einfach ein digitales Tool zu installieren wird nicht ausreichen, um eine Optimierung zu erreichen. Man darf die Menschen und Prozesse nicht vergessen.»
André Hildebrand
Darum sei es nötig, dass auf der einen Seite auch die Mitarbeitenden für die Mühen einer Weiterbildung bereit sind – und dazu, sich in ihrer Persönlichkeit und ihren Fertigkeiten weiterzuentwickeln, so der Geschäftsführer. Unternehmen sollten ihr Personal deshalb proaktiv auf die Reise mitnehmen; es motivieren, sich diesen Lernprozessen zu stellen. «Auf der anderen Seite sollten sich aber auch die Unternehmen selbst durch ein zielorientiertes Change-Management begleiten lassen, das den gesamten Veränderungsprozess berücksichtigt – auf individueller wie auch auf organisatorischer Ebene», stellt André Hildebrand klar. Das helfe gleichzeitig dabei, den Projekterfolg zu sichern und dass alle Mitarbeitenden langfristig in ihrer Tätigkeit zufrieden bleiben.
Zusammenarbeit leben
Eine besondere Herausforderung sieht Boris Diehm indes in der Vielzahl an unterschiedlichen Betreibern von Abwasserreinigungsanlagen in Baden-Württemberg. Insbesondere die kleineren Betriebe seien durch ihr Tagesgeschäft oft vollends ausgelastet. Dadurch sei es noch schwieriger, herauszufinden, welche Ideen man mit der Digitalisierung verbindet, in welche Technik man für die Zukunft investieren soll. Deshalb brauche es dringend den Austausch zwischen den einzelnen Betrieben, um den zukünftigen Aufgaben noch gerecht werden zu können. «Um Wissen weiterzugeben, ist meines Erachtens ein Mix optimal: Einerseits Junge und Erfahrene eine Zeit lang parallel an Aufgaben arbeiten zu lassen und andererseits den Fachaustausch mit anderen Betrieben zu fördern», so Boris Diehm.
«Betreiber müssen sich Gedanken über mögliche Formen der Kooperation machen.»
Boris Diehm
In Deutschland und speziell in Baden-Württemberg verfolgt man zur Know-how-Weitergabe bereits seit mehr als 50 Jahren ein Modell der ‹Nachbarschaften›. Rund 60 davon gibt es in Baden-Württemberg. Dabei tauschen insgesamt etwa 4'000 Facharbeiter:innen und Betriebsleiter:innen zwei Mal jährlich ihre Erfahrungen aus und bewerten gemeinsam Betriebsdaten und -zustände vergleichbarer Situationen. An den moderierten Events mit Workshop-Charakter nehmen jeweils 15–20 Personen nahegelegener Kläranlagen teil. Mit Fachbeiträgen wird zusätzlich neues Wissen eingebracht. «Das ist ein ganz wichtiges Instrument für generationsübergreifendes Wissensmanagement, und wird auch in den nächsten Jahrzehnten eine wichtige Daseinsberechtigung haben», ist André Hildebrand überzeugt.
«Es ist richtig und wichtig, dass wir das Wissen sichern und weitergeben. Nichtsdestotrotz soll es die junge Generation auch anders machen dürfen.»
Boris Diehm
Aber auch aus Kooperationen zwischen Betreibern können sich den Experten zufolge zukünftig Chancen eröffnen: «Zusammenschlüsse waren in den vergangenen Jahren oft ein heikles Thema. Durch eine junge Generation politischer Entscheider:innen könnte sich dieses Bewusstsein meiner Meinung nach ändern», sagt der Geschäftsführer. Sie sähen die umwelt- und haftungsrechtliche Verantwortung stärker und stünden deshalb dem Thema Zusammenschluss oft offener gegenüber.
Bereitschaft vorhanden
Nicht nur deshalb blickt Boris Diehm trotz aller Herausforderungen zuversichtlich in die Zukunft: «Digitalisierung und nachhaltige Wasserwirtschaft – das sind tolle Themen, die aus meiner Sicht sogar bei den ‹Fridays for Future› bei jungen Menschen Anklang finden werden. Das stimmt mich positiv, dass wir auch in Zukunft junge Talente finden.»
Und auch die Bereitschaft für die Arbeit mit digitalen Tools, für den Veränderungsprozess, sei vorhanden. Das sehe man beispielsweise an der Cloud-Software ‹DWA BETRIEB›, in der die Betriebsdaten aller Kläranlagen in Baden-Württemberg zusammengeführt werden, ist André Hildebrand stolz: «Alle Anlagen haben ihre Schnittstellen gebaut und ihre Daten einfliessen lassen. Weil die Betriebe ein Stück weit hungrig danach sind, effizienter zu arbeiten, und weil sie den Mehrwert sehen: einfach Betriebsergebnisse dokumentieren und visualisieren, Abweichungen lokalisieren und direkt aus dem System einen Energie- und Umweltinformationsbericht erzeugen und an die zuständige Behörde senden. Natürlich ist die Einführungsphase erst einmal mit Aufwand verbunden – doch mittelfristig nehmen uns gute digitale Systeme Arbeit ab.»
«Jeder ist veränderungsbereit, wenn er sieht: ‹Es wird viel einfacher für mich›.»
André Hildebrand
Es sei ein wichtiger Schlüssel für die Akzeptanz der Digitalisierung, «funktionierende» Best-Practice-Lösungen wie diese zu zeigen, so Boris Diehm: «Wenn wir es schaffen, als Branche gemeinsam an einer Gesamtarchitektur zu arbeiten, können wir das Thema wirklich voranbringen. Das ist nicht einfach. Das wird sogar sehr aufwändig. Und wir müssen uns im Klaren sein, dass diese Branchen-Architektur nicht fertig sein wird, wenn wir daran gearbeitet haben. Nichtsdestotrotz müssen wir jetzt beginnen. Dann kann das funktionieren.»
Bildnachweis: DWA Landesverband BW