transfer Ausgabe 01 | 2021

Starten, statt warten

Wie aus der ‹Vision Energiewende› Realität werden kann

Seit Mitte der 1980er-Jahre setzt die Stadt St. Gallen auf Fernwärme und erweitert kontinuierlich deren Netze. Im Jahr 2017 sprach sich eine überwältigende 85-Prozent-Mehrheit der Stimmbevölkerung für einen weiteren Ausbau mit einem Volumen von 65,5 Millionen Schweizer Franken aus. Marco Letta, Unternehmensleiter der St.Galler Stadtwerke, erzählt uns im Interview von der erfolgreichen Geschichte und Zukunft der St.Galler Fernwärme. Und wo er sich dazu aber auch noch Unterstützung aus der Politik erhofft. 

Herr Letta, St. Gallen hat sich schon sehr früh Gedanken über eine zukunftsgerichtete Wärmeversorgung gemacht. Wie sieht diese konkret aus?

Zwischen dem Energiekonzept 2050 der Stadt St. Gallen und der Energiestrategie des Bundes gibt es einen wesentlichen Unterschied: Unser Energiekonzept ist das integrale Zusammenschnüren der drei Netze Strom, Wärme und Gas, und stellt die Sektorkopplung ins Zentrum. Am Schluss soll die ganze Talsohle von St. Gallen mit Fernwärme ausgebaut sein. Richtung Westen gibt es mit dem Sittertobel leider eine geografische Barriere zur Stadt, weshalb westlich des Tobels derzeit ein losgelöstes Anergienetz entsteht. Oberhalb von 700 m.ü.M., in den Hügelgebieten, erzeugen wir zukünftig Wärme in Blockheizkraftwerken (BHKW) und bauen Nahwärmeverbünde aus. Die BHKW, welche ausserdem Strom erzeugen, sind an das Gasnetz angeschlossen. Dieses führt heute noch Erdgas, künftig aber Biogas und synthetisches Gas. In den restlichen Gebieten wird im Endausbau mit Wärmepumpen geheizt werden.

Wo liegen die besonderen Herausforderungen in St. Gallen?

Ein Teil der Problematik wird durch die besondere Topografie bestimmt. Das Kehrichtheizkraftwerk liegt bei uns auf etwa 580 m.ü.M., also relativ tief. Deshalb müssen wir zunächst die Wärme mit einigem Aufwand in die Stadt hochpumpen, um die Wärmekunden entsprechend versorgen zu können. Die Fernwärmezentralen Waldau und Olma deckten bisher den Spitzenbedarf in den Wintermonaten. Mit der im Jahr 2017 von der Stimmbevölkerung gutgeheissenen Ausbaustufe 2 erschliessen wir nun über die nördliche Talseite den Osten der Stadt und schliessen auf dem Rückweg über die südliche Talseite in Richtung Stadtzentrum final den heute noch offenen Ring.

Wie sieht ihr Zielzustand aus?

2050 wollen wir rund 50 Prozent aller beheizten Gebäude mit Fernwärme bedienen, das sind etwa 5'500 Liegenschaften. Mit Biogas betriebene Blockheizkraftwerke versorgen in Wärmeverbünden dann rund 2'200 Gebäude, weitere 2'300 heizen mit Wärmepumpen. Nur einzelne, über 1'000 m.ü.M. gelegene Bauernhöfe werden eine Individuallösung benötigen, und beispielsweise mit Holzschnitzel oder mit flüssigem Biogas heizen. Ziel ist, dass dannzumal kein Tropfen fossilen Brennstoffs mehr für Wärme eingesetzt wird.

«2050 setzt St. Gallen keine fossilen Brennstoffe mehr für Gebäudewärme ein.»

Marco Letta, Unternehmensleiter der St.Galler Stadtwerke

Nimmt man die BHKW-Nahwärmenetze dazu, sollen nach Ihrem Plan sogar mehr als drei Viertel der Gebäude an die Fernwärme angeschlossen sein. Wie kann das gelingen? Wie holt man die Kunden ins Boot?

Das ist eigentlich eine schöne Aufgabe. Die meisten Liegenschaftsbesitzer möchten sich gerne an die Fernwärme anschliessen, einen Anschlusszwang gibt es bei uns nicht. Stellen sie auf Fernwärme um, erhalten sie eine Förderung, und ein 15-Jahre-Sorglospaket, bei welchem sie nur für die bezogene Wärme den entsprechenden Preis bezahlen. Unser Netz ist rund um die Uhr überwacht, die Wärmekundschaft muss sich weder um das Warmwasser noch die Heizwärme im Gebäude kümmern. Keine Brennstoffbeschaffung, keinen Service, nichts.

Wichtig ist dabei ein nachvollziehbarer, klarer Umsetzungsplan. Wenn man ein Wärmenetz baut, dann kann man das nicht von heute auf morgen entwickeln. Man muss den Endzustand sauber planen und schliesslich Schritt für Schritt bauen. So schafft man Transparenz, und das wird von der Bevölkerung sehr geschätzt. So haben wir beispielsweise sämtliche Transformationsprozesse für die Umsetzung des Energiekonzepts bis 2050 bereits in unser Gebäudeinformationssystem eingepflegt. Kunden können auf unsere Homepage gehen, ihre Liegenschaft eingeben und so wissen sie relativ schnell, welche Ausbaupläne wir konkret bis 2035 haben. Dieser öffentlich zugängliche Kataster ist wie eine Grundvoraussetzung zur Initialberatung unserer Kundinnen und Kunden.

Insgesamt wollen wir in St. Gallen die Energiewende auf einem konsensfindenden Weg schaffen. Nur fehlen in unserem Land dazu nach wie vor viele Grundlagen wie z.B. ein Gas-Versorgungsgesetz, welches sektorübergreifend wirkt und für den ökologischen Umbau unterstützend wirkt. Und wir wissen nicht, wohin sich Bund und Kanton bewegen. Deswegen haben wir entschieden, dass wir nicht weiter warten möchten und haben mit dem Energiekonzept 2050 und dessen Umsetzung das Zepter selbst in die Hand genommen.

Mit dem Energiekonzept 2050 wurde die St.Galler Bevölkerung bereits vor über 13 Jahren informiert und für die Chancen des Ausbaus der Fernwärmeversorgung sensibilisiert. Damit ist auch die breite Zustimmung zu erklären. Und: Der Aufklärung ist die Umsetzung gefolgt. Wir setzen die Planung seit Jahren konsequent und Schritt für Schritt um. Natürlich müssen wir aktiv informieren und beraten. Das erfolgt über das Gebäudeinformationssystem, die Energieberatung sowie den Anschlussverkauf. Die Beratung ist gezielt auf die Ziele des Energiekonzepts abgestimmt.

Wir beraten unsere Kundschaft ganzheitlich. Das heisst, wir sprechen mit ihnen über Solaranlagen, Elektroladestationen und Energiespeicher. Die Umsetzung wird aber durch das lokale Gewerbe getätigt. Es sorgt für die qualitativ hochstehende Installation der Energiesysteme. Dies gilt auch für die von den St.Galler Stadtwerken im Energiecontracting betriebenen Anlagen. Um die Versorgungssicherheit über die gesamte Vertragsdauer zu gewährleisten, definieren wir jedoch die zu verbauenden Komponenten, und limitieren so die Systemvarianten im Wärmenetz.

St. Gallen hat also eine gute Grundlage, damit sich die Energiewende entwickeln kann. Auch ohne Handreichung des Bundes?

Für St. Gallen mag das vorderhand stimmen. Nur: 2019 gab es in der Schweiz rund 1,7 Millionen Gebäude, und rund 50 Prozent davon hängen immer noch am Öl. Das ist weit weg von Netto-Null. So gesehen hätten wir schon ein paar Forderungen an den Bund, um der Fernwärme mehr Anschub zu verleihen. Eine davon leitet sich beispielsweise aus der geografischen Lage der Stadt St. Gallen ab. Es mag sein, dass man in wärmeren Gegenden in einem Fernwärmenetz ohne Spitzenabdeckung durch gasbetriebene Fernwärmezentralen auskommen kann, nicht aber hier. Wir haben oftmals längere Perioden mit Temperaturen weit unter null Grad. Und da nützt auch eine doppelt so grosse Kehrichtverbrennungsanlage nichts. Deshalb müssen wir bei der Wärmeversorgung ebenso das Gasnetz betrachten, und zwar integral. Das kann man nicht einfach ausblenden, wie es in der Energiestrategie 2050 des Bundes der Fall ist. Und wir werden bei steigender Bevölkerungszahl und wachsendem Energieverbrauch nur schwerlich eine rein erneuerbare Stromversorgung erreichen. Selbst wenn wir alles Wasser, das wir haben, noch irgendwo stauen würden. Auf dem Weg zum Erreichen unserer Energieziele müssen wir verschiedene Energieträger intelligent koppeln. Und dabei müssen wir in unserem Kraftwerksystem Konsumenten, Produzenten und diejenigen, die beide Rollen einnehmen, die Prosumer, miteinander in Einklang bringen. Das sollte endlich auch Bundesbern sehen.

«Das Energiekonzept 2050 der Stadt St. Gallen gibt Netto-Null Emissionen als Ziel vor. Wir warten nicht auf Entscheide von Bund und Kanton, wir setzen konsequent um.»

Wie kann man so etwas auf unsere föderalistisch organisierte Energieversorgung projizieren? Der Energieversorger einer kleinen Gemeinde hat es ungleich schwerer.

Das sehe ich ziemlich ähnlich. Wir reden von Dezentralisierung und Smart Grids – da benötigt man als Energieversorger schon eine hohe IT- und OT-Kompetenz, um das zu managen. Und auch um die geforderte Digitalisierung zu stemmen, sind die kleineren Energieversorger oft überfordert. Klar muss ihnen sein, dass sie als reiner Verteilnetzbetreiber zukünftig kaum wirtschaftlich agieren können. Diese Herausforderungen müssen sie bewältigen.

Dann hilft nur die Fusionierung?

Das ist ein mögliches Modell. Man könnte aber zum Beispiel auch aus dem Zusammenschluss kleinerer Netze Betreibergesellschaften gründen, an denen die Gemeinden mit entsprechenden Anteilen partizipieren. Und so die öffentlich-rechtlichen Besitzverhältnisse erhalten.

Das Anergienetz ‹energienetz GSG› ist ein solches gemeinsames, grenzübergreifendes Projekt. Wie gelang dieses?

Zwischen dem Westrand von St. Gallen und dem östlichen Teil der Stadt Gossau liegt ein grosses Industriegebiet. In verschiedenen Studien versuchte man herauszufinden, wie sich dort die Wärmeversorgung entwickeln liesse. Die traditionelle Abwärmequelle der Kehrichtverbrennungsanlage liegt geografisch zu weit entfernt, die Industrie- und die Gewerbezone sowie die angrenzenden Wohngebiete haben jedoch einen grossen Energiebedarf. Gleichzeitig verfügt erstere selbst über ein grosses Abwärmepotenzial. Eine dieser Studien kam zum Schluss, dass der Bau eines der grössten Anergienetze der Schweiz möglich wäre. Die Herausforderung bestand allerdings darin, dass man dazu politische Hürden überwinden musste, denn inmitten des Gebiets verläuft die Grenze zwischen den Städten St. Gallen und Gossau. Und die Wärmelieferanten liegen sowohl diesseits wie jenseits davon.

Die St.Galler Stadtwerke haben sich mit den Stadtwerken Gossau und der SAK (St.Gallisch-Appenzellische Kraftwerke AG) an einen Tisch gesetzt und zusammen einen Businessplan erstellt. Nach einigen Iterationsschritten konnten die politischen Gremien vom Projekt überzeugt werden und 2018 gründeten die Gemeinden St. Gallen, Gossau und Gaiserwald zusammen mit der SAK AG die energienetz GSG AG.

Innerhalb von nur einem Jahr hatten wir das Initialcluster mit dem zur Verfügung stehenden Budget gebaut und das Anergienetz in Betrieb genommen. Doppelt so schnell wie vorgesehen. Der weitere Ausbau ist in Planung.

«Die Energiewende wird nur möglich mit einer Vision, konkreten Zielen und konsequenter Umsetzung. Und das ist kein Sprint, sondern eher die Ultramarathonstrecke.»

Zusammengefasst: Was ist Ihrer Meinung nach der Schlüssel, dass in der Fernwärme auch andernorts eine Entwicklung vergleichbar der von St. Gallen gelingt?

In der Schweiz gibt es schon sehr viele Fernwärmenetze, die nach gleichem Muster wie in St. Gallen gebaut wurden und werden. Die Umsetzung der Sektorkopplung der Netze Strom, Gas und Wärme ist aber meistens nur auf dem Papier zu finden. Wir müssen die verschiedenen Systeme zusammenbringen und die energetischen Flexibilitäten wo und wie sie auch immer anfallen vor Ort nutzen.

Die zweite Erkenntnis ist, dass man die Energiewende und die damit verbundenen Herausforderungen alleine nicht lösen kann. Wollen wir bis 2050 die Energieversorgung dekarbonisieren, so müssen wir auf allen politischen und wirtschaftlichen Ebenen besser zusammenarbeiten. Ich denke da an ein schweizweites sektorgekoppeltes Gesamtsystem. Dieser Ansatz wird sicher viele Hürden und Stolpersteine mit sich bringen.

Und zum Dritten: Die Energiewende wird nur möglich mit einer Vision, konkreten Zielen und konsequenter Umsetzung. Das ist kein Sprint über 100 Meter, das ist eher die Ultramarathonstrecke. Und wenn sich Bund und Gemeinden für Letzteres entscheiden, dann gibt es nur eines: sie müssen gemeinsam an den Start und am Ende gemeinsam über die Ziellinie. Das haben wir in St. Gallen mit dem Energiekonzept 2050 und dessen Umsetzung im kleinen Rahmen gemacht. Wir sind auf gutem Weg, mindestens unsere Ziellinie zu erreichen, aber auch bei uns ist Ausdauer gefragt.

Herr Letta, herzlichen Dank für das Gespräch.

Bildnachweis: Albinfo, CC BY-SA 3.0 (Titelbild); Daniel Ammann

Stichwort: Anergienetz

Ein Anergienetz nutzt sogenannte ‹niederwertige Energieformen›, beispielsweise industrielle Abwärme, oder Wärme aus Abwasser, Umwelt, See- oder Grundwasser. Es wird oftmals auch als ‹kaltes Wärmenetz› bezeichnet, weil es mit tiefen Temperaturen betrieben wird. Die Netzteilnehmer profitieren voneinander: Die einen speisen überschüssige Wärme ein, beispielsweise aus einem Kühlprozess oder anderweitiger industrieller Prozesswärme. Andere wiederum nutzen diese Abwärme mit einer Wärmepumpe zur Heizung oder Klimatisierung. In optionalen Erdspeichern kann im Sommer Wärme gespeichert und im Winter bezogen werden. Umgekehrt lässt sich im Sommer die Kälte aus den Wintermonaten nutzen. Im Idealfall gleichen sich Einspeisung und Entnahme im Jahresverlauf aus. Ziel dieser Vernetzung ist die Optimierung der Energieeffizienz aller Teilnehmer und schliesslich die Reduktion des Anteils genutzter fossiler Energieträger.