transfer Ausgabe 01 | 2022

Implizites explizieren

Ansätze zur Wissensweitergabe aus der psychologischen Forschung

Prof. Dr. Katrin Fischer ist Professorin an der Hochschule für Angewandte Psychologie FHNW. Dort beschäftigt sie sich u. a. mit menschlichem Verhalten in komplexen soziotechnischen Systemen und den Handlungen im Umgang mit technischen Einrichtungen. Wir durften mit ihr darüber sprechen, welche Rahmenbedingungen die Weitergabe von Wissen aus Sicht der Psychologie begünstigen – und welche sie eher behindern.

Frau Dr. Fischer, wie nähert man sich in der Forschung der Weitergabe von Wissen an?

Dazu unterscheiden wir als erstes die unterschiedlichen Arten des Wissens, für die es auch verschiedene Methoden des Transfers benötigt.

Die Arten von Wissen können wir auf einer Vier-Felder-Matrix abbilden: In einer Dimension markieren wir das individuelle Wissen, das eine Person im Kopf hat und daneben das kollektive Wissen der Gruppe. Das ist beispielsweise das Know-how, das alle Operateure in einer bestimmten Abteilung gemein haben. Die zweite Dimension – die psychologisch durchaus interessantere – unterscheidet zwischen implizitem und explizitem Wissen. Das explizite Wissen ist den Leuten bewusst. Man kann es beschreiben. Meist wird es mit Betriebsvorschriften, Checklisten, Wikis oder Prozessbeschrieben gut dokumentiert. Das explizite Wissen kann individuell oder kollektiv sein. Viel schwieriger ist die zweite Ausprägung: das implizite Wissen.

Was heisst ‹schwieriger›?

Wir nennen das implizite Wissen in der Psychologie auch ‹stilles Wissen›. Hier sehen wir häufig das Problem, dass den Akteuren das unglaubliche Know-how, das sie durch ihre langjährige Berufserfahrung im Kopf haben, gar nicht bewusst ist. Dementsprechend lässt es sich auch viel schwieriger explizieren. Deshalb ist es beispielsweise auch nicht sonderlich sinnvoll, jemanden im letzten halben Jahr vor der Pensionierung ‹alles› aufschreiben zu lassen, was für seinen Job relevant ist. Abgesehen davon, dass er das gar nicht kann, weil es ihm eben nicht bewusst ist, ist es auch nicht gerade motivierend.

Implizites Wissen kann ebenfalls kollektiv vorhanden sein. Dieses wird durch gemeinsame Erfahrungen aufgebaut und entsteht erst durch Interaktion. Oft etablieren sich in Jahren der Zusammenarbeit mit den immer selben Akteuren sehr viele sinnvolle, aber implizite Regeln, die nirgends dokumentiert sind. Sie sind den Beteiligten meist auch gar nicht bewusst. Man merkt häufig erst, dass es sie überhaupt gibt, wenn sie nicht mehr funktionieren. So kann es vorkommen, dass ein bislang sehr gut eingespielter Prozess von heute auf morgen nicht mehr wie geplant verläuft, weil ein Beteiligter in Pension geht und ein Nachfolger ins Team kommt.

Welche Ansätze gibt es, um dieses implizite Wissen in Unternehmen zuverlässig weiterzugeben?

Wir unterteilen die Prozessschritte bei der Weitergabe in die drei Phasen Explizierung, Dokumentation und Nutzung. Man muss sich über alle drei Schritte Gedanken machen. Aus der Forschung kennen wir diverse Methoden, die sich anbieten, implizites Wissen weiterzugeben. Allen gemein ist, dass sie im Vergleich zum Transfer von explizitem Wissen deutlich personalintensiver sind.

Eine gute Methode ist das ‹Götti-Prinzip› – eine Patenschaft von erfahrenen Mitarbeitenden auf Zeit. Die neue Mitarbeiterin oder der neue Mitarbeiter geht im Alltag mit dem Götti mit, schaut sich viele Dinge ab und kann im Moment des Tuns nachhaken.

Eine andere Methode, die gut funktioniert, ist das Story Telling. Man nimmt ein positives oder negatives Ereignis, das vorfiel. Dann setzt man sich mit den Beteiligten zusammen und lässt sie zunächst einmal relativ unstrukturiert erzählen. Mit gezielten Warum-Fragen versucht man dann, anhand dieser Story an das spezifische Wissen zu kommen. Diese Methode ist zwar viel schwächer strukturiert als ein Regelwerk oder eine Checkliste, aber man kommt fallbezogen an sehr viel tieferes Detailwissen heran. Dazu kann es auch hilfreich sein, eine externe Person einzusetzen. Ein Unbeteiligter von aussen stellt vermutlich Fragen, die einem Werksleiter nie einfallen würden.

Eine weitere Möglichkeit, um kollektives implizites Wissen zu explizieren, ist das Pre-Job- und De-Briefing. Diese Methode wird in Werken häufig angewendet. Beim Pre-Job-Briefing geht man vorab den Prozess gemeinsam mental durch und versucht herauszufinden, welche Spezifika berücksichtigt werden müssen. Beim De-Briefing danach sieht man sich an, was gut war, was nicht, worauf beim nächsten Mal geachtet werden muss, und was man beispielsweise den Kolleginnen und Kollegen aus der nächsten Schicht weitergeben sollte.

Wieso fällt es dennoch vielen Unternehmen so schwer, das Wissen der Erfahrenen an die Jüngeren weiterzugeben?

Bei allen drei angesprochenen Phasen des Wissenstransfers gibt es begünstigende und hinderliche Faktoren. Diese können sich auf verschiedenen Ebenen manifestieren: bei einzelnen Individuen, in Teams, auf technischer Ebene und in der Organisation bzw. im System.

Auf individueller Ebene ist es beispielsweise förderlich, wenn die Mitarbeitenden eine Sinnhaftigkeit im Wissensmanagement bzw. dem Wissenstransfer sehen. Durch den für sie erlebbaren Nutzen entsteht Motivation. Dieser Nutzen kann auch darin bestehen, dass sie sich wertgeschätzt fühlen, weil sie ihr Wissen teilen können. Auf der anderen Seite kann es aber auch hinderlich sein, dass jemand Angst vor einer Wissensenteignung hat – und davor, überflüssig zu werden, weil man sein Spezialistenwissen «absaugt». Aber auch der potenzielle Status- bzw. Machtverlust im Unternehmen kann einen hemmenden Faktor auf individueller Ebene darstellen.

Auf technischer Ebene können schlecht benutzbare Instrumente zur Dokumentation von Wissen die Weitergabe dessen erschweren. Sharepoint ist zum Beispiel in vielen Unternehmen das Bermuda-Dreieck für Daten. Mitarbeitende speisen etwas ein, finden es aber nie wieder. Das ist extrem demotivierend.

Auf der Ebene der Organisation ist eine offene, wissensorientierte Kultur mit einem partizipativen Wissensmanagement-Prozess sehr hilfreich. Auch eine gewisse Stabilität ist wichtig, um die Weitergabe von Wissen zu fördern. Für Unternehmen, die sich hingegen permanent in Reorganisation befinden, ist Wissensmanagement sehr schwierig zu bewältigen. Das immer wieder beobachtbare Konkurrenzdenken zwischen einzelnen Organisationseinheiten beeinflusst das Wissensmanagement ebenfalls negativ.

Und mit am wichtigsten: Es braucht vom Top-Management ein klares Bekenntnis zum Wissenstransfer. Dazu gehören die zeitlichen und personellen Ressourcen, die bereitgestellt werden müssen. Aber auch eine entsprechende Fehlerkultur, um nachhaltiges Wissensmanagement zu ermöglichen. Wenn diese Ebene nicht mit gutem Beispiel vorangeht und das Thema mitträgt, ist das Wissensmanagement im Unternehmen tot.

Inwieweit ist die Fehlerkultur so wichtig?

Fehlerkultur und Wissensmanagement hängen sehr eng zusammen und profitieren wechselseitig voneinander. Um Wissen nachhaltig zu sichern, dürfen wir beispielsweise im Falle eines Fehlers nicht den Schuldigen suchen und nur fragen, wer ihn begangen hat. Wir müssen ein Auge darauf werfen, was systemisch geschehen ist. Identifizieren, welche Faktoren dazu beigetragen haben, dass der Fehler passiert ist und versuchen, diese nachhaltig auszuräumen.

«Es ist nicht verboten, Fehler zu machen. Aber es ist verboten, nicht daraus zu lernen.»

 

Prof. Dr. Katrin Fischer, Professorin am Institut Mensch in komplexen Systemen an der Hochschule für Angewandte Psychologie FHNW

Auf der anderen Seite: Mit einer schlechten Fehlerkultur werden schlimmstenfalls Fehler verheimlicht. Mitarbeitende teilen vor allen Dingen auch keine Unklarheiten oder Unsicherheiten. So können Wissen, aber auch Wissensdefizite nicht an die Oberfläche gelangen.

Eine solche Kultur kann man aber nicht von heute auf morgen verordnen. Das ist ein Entwicklungsprozess, der sich über Jahrzehnte erstreckt. Oft führen Ereignisse dazu, dass in diesem Bereich etwas vorangeht. Deshalb sind Branchen, die im öffentlichen Fokus stehen, dort oft schon etwas weiter als jene, die von der Öffentlichkeit weniger beachtet werden. In den Schweizer Kernkraftwerken oder auch in der Luftfahrtbranche haben wir beispielsweise eine ausgesprochen gute Fehlerkultur beobachtet. Hier waren es zwar in der Vergangenheit tragische negative Ereignisse, die diese Entwicklungen getrieben haben. Dennoch muss man sagen, sie haben die Kultur vorangebracht.

Unabhängig von solchen Ereignissen haben wir – wie beim Wissensmanagement allgemein – auch bei der Fehlerkultur die Erfahrung gemacht, dass man diese nur dann nachhaltig in Gang bekommt, wenn das Bewusstsein in der Management-Ebene dafür vorhanden ist.

Das heisst also, schlussendlich hängt alles an den Führungskräften?

Vielleicht nicht alles, aber sehr viel. Als Chef oder Chefin muss ich mir früh genug Gedanken über die Nachfolgeplanung und eine gut entwickelte Fehlerkultur machen. Und auch die passenden Methoden für die Wissensweitergabe in meinem Unternehmen finden. Ich glaube, das geht in dem Alltagsstress, der heute in den Unternehmen oft herrscht, gerne verloren. Man tut sich aber keinen Gefallen damit, wenn man die Themen nicht angeht.

«Es gibt keine One-fits-all-Lösung, um Wissen zu explizieren und weiterzugeben. Die Methoden müssen zum Unternehmen und den Menschen passen.»

Es gibt auch nicht die eine Lösung, die für alle gleichermassen passt, um Wissen zu explizieren und weiterzugeben. Die Methoden müssen zum Unternehmen und den Menschen passen. Vielleicht besteht die Lösung darin, einfach kurze Videos der einzelnen Arbeitsprozesse zu machen und diese gleichzeitig zu kommentieren. Das ist viel einfacher als alles aufzuschreiben. In Kraftwerksstollen, in denen man keine Internetverbindung hat, könnte es hingegen sinnvoll sein, scheckkartengrosse Anleitungen mit Fotos zu gestalten, anstatt auf einen Sharepoint-Server zu setzen. Oder man könnte eine Senior-Academy ins Leben rufen, für die erfahrene Mitarbeitende zehn Prozent ihrer Zeit investieren, um gezielt ihr Wissen weiterzugeben.

Mit welcher Methode haben Sie gute Erfahrungen gemacht?

Wir haben mit der Story-Telling-Methode sehr gute Ergebnisse erzielt. In einem Kernkraftwerk moderierten wir beispielsweise Workshops, in denen wir uns gemeinsam den Prozess des Abtransports der nuklearen Brennelemente angesehen haben. Die Beteiligten waren total überrascht, welche unglaubliche Menge an implizitem Wissen aus diesen Abstimmungen hervorkam. Und dabei wollten sie eigentlich erst einen anderen Prozess thematisieren, weil sie dachten, beim Abtransport der Brennelemente wäre alles dokumentiert und vollkommen klar. Die Ergebnisse hielten wir auf Formblättern fest, die das Kraftwerk bei den Dokumentationen des jeweiligen Prozesses abgelegt hat. So kann das Wissen beim nächsten Mal genutzt werden, wenn der Prozess ansteht.

Ich habe zudem die Erfahrung gemacht, dass sich Mitarbeitende in einem Unternehmen eigentlich immer freuen, wenn man ihnen zuhört und sie ausführlich über ihre Arbeit berichten lässt. Sie fühlen sich wertgeschätzt, weil ihre Expertise und ihr Wissen für das Unternehmen wichtig sind. Oft erzählen sie zu Beginn darüber, wie es nach Betriebshandbuch laufen sollte, und nach einiger Zeit heisst es dann: «Ach weisst du – ich sag dir mal, wie’s wirklich läuft.» Und genau das ist das wichtige Wissen, das es zu bewahren gilt.

Herzlichen Dank für das Gespräch.

Bildnachweis: iStock/akindo, Peter Sturn