transfer Ausgabe 01 | 2021

«Erst denken, dann handeln» – Wege in die Fernwärme

Einblicke in Entscheidungsprozesse und Herausforderungen der Branche

Prof. Joachim Ködel ist Dozent für leitungsgebundene thermische Energieübertragung und Leiter des Programms Thermische Netze am Institut für Gebäudetechnik und Energie IGE der Hochschule Luzern (HSLU). Wir haben mit ihm über Entscheidungsgrundlagen für den Bau von thermischen Netzen und über die zukünftigen Herausforderungen der Fernwärme gesprochen.

Herr Prof. Ködel, womit genau beschäftigen Sie sich im Rahmen Ihrer Tätigkeit an der HSLU?

Als Dozent unterrichte ich die Studierenden der Gebäudetechnik im Modul nachhaltige Industrie und Fernwärme (NIF) und bin Leiter des Programms «Thermische Netze», welches wir an der Hochschule im Auftrag des Bundesamts für Energie (BFE) leiteten. Im Rahmen dieses Programms haben wir Entscheidungskriterien mitgestaltet, um Aufbau und Umfang thermischer Netze aufgrund von ökologischen und wirtschaftlichen Aspekten festzulegen. Damit sollen zukünftig Entscheidungen im Bereich der Wärmeversorgung systematischer erfolgen.

«Die wirtschaftliche Tragfähigkeit einer Fernwärmeversorgung ist eigentlich das wichtigste Kriterium. Sie steht aber oftmals nicht im Vordergrund.»

Prof. Joachim Ködel, Professor am Institut für Gebäudetechnik und Energie IGE an der Hochschule Luzern

Warum sind solche Entscheidungskriterien wichtig?

Nun ja, letztlich müssen wir uns doch etwas ausdenken, das wirtschaftlich auch tragbar ist – und nicht aufgrund einer aktuellen Mode oder besserer Publikumswirksamkeit entscheiden. Diese Frage begleitet die Energieversorgung als Gesamtes: Ist etwas wirtschaftlich tragbar, oder ist es nur aus energetischer Sicht interessant? Oftmals fehlt in Entscheidungsgremien das nötige Fachwissen. So folgen sie eben nicht der wirtschaftlichen Argumentation, sondern sie bevorzugen eine Lösung, weil sie ihnen schlicht besser gefällt.

Das kommt jetzt überraschend. Man sollte doch davon ausgehen dürfen, dass solche Entscheidungen auf entsprechenden Analysen und Fachwissen basieren?

Das fände ich auch wichtig. Aber leider ist es in vielen Fällen nicht so, und das ist sehr schade. Nicht nur weil viel Geld investiert wird, sondern auch weil ein getroffener Systementscheid nachträglich meist nicht mehr hinterfragt wird und in weiterer Folge auch kaum mehr rückgängig gemacht werden kann.

Welche Trends spielen denn bei der Entscheidung eine Rolle oder stehen gerade im Vordergrund?

Mit der Energiestrategie 2050 und dem Thema Dekarbonisierung sind Anergienetze sehr in Mode gekommen. Diese Begrifflichkeit hat sich im Zusammenhang mit der Nutzung von Umwelt- bzw. Abwärme mit Niedertemperatur durchgesetzt. Das ist auch gut und richtig, wenn die Gegebenheiten stimmen. Man muss sich aber bewusst machen, dass man bei so niedrigen Temperaturen extrem viel Wasser im Kreislauf benötigt. Das heisst, man baut relativ grosse Netze, um im Vergleich zur heissen Fernwärme, eine recht kleine Energiemenge zu transportieren. Das macht nur Sinn, wenn die lokalen Rahmenbedingungen stimmen und man die Niedertemperaturen auch in der Nähe nutzen kann. Einfach gesagt ist die Seewassernutzung wunderbar, wenn der See in der Nähe der Abnehmer liegt. Wenn man das Wasser erst kilometerweit den Berg hinaufpumpen muss, dann ist der Nutzen zumindest zu hinterfragen.

Worauf sollte sich der Blick der Entscheider stattdessen richten?

Richtig wäre es, zuerst die lokale Situation und deren Randbedingungen zu analysieren, und danach erst die Lösung auszuwählen. Und nicht umgekehrt. Unter Umständen stellt man dabei fest, dass manche Regionen gar nicht so optimal geeignet sind, eine zentrale Versorgung für Wärme aufzubauen. Oder wenn in der Umgebung bereits eine Kehrichtverbrennungsanlage steht, dann macht der Aufbau einer klassischen heissen Fernwärmeversorgung vermutlich mehr Sinn – selbst, wenn zufällig noch ein See daneben liegt.

Für die langfristige Planung der Wärmeversorgung spielt auch die Raumplanung eine entscheidende Rolle. Gerade in kleinen und mittelgrossen Regionen bietet sie bei der Frage nach der energetischen Eignung der einen oder anderen Lösung wichtige Entscheidungshilfen.

Um für die Zukunft gerüstet zu sein, müssen wir uns überlegen, wie die Dekarbonisierung der Wärmeversorgung in der Schweiz gelingen kann. Da hat die Fernwärme eigentlich ein hohes Potenzial. Wie sehen Sie das?

Im Weissbuch Fernwärme Schweiz wird für das Jahr 2050 prognostiziert, dass knapp 40 Prozent der benötigten Wärme über eine Fernversorgung bewerkstelligt werden kann. Schätzungen zufolge werden derzeit jedoch noch weniger als 10 Prozent durch Fernwärmenetze abgedeckt. Das ist also noch einiges an Potenzial, das man angehen kann.

Aber das heisst, dass man bis 2050 noch einiges in die Fernwärme investieren muss?

Ja, um das Ziel von 40 Prozent zu erreichen, müssten in der Schweiz ca. 1 Mrd. CHF pro Jahr in die Fernversorgung investiert werden. Wohl gemerkt ist diese Zahl nur eine grobe Schätzung, aber das Volumen liegt in dieser Grössenordnung. Das ist schon eine stattliche Summe, die die Branche aufbringen muss.

Im Zusammenhang mit der Energiestrategie 2050 fallen auch immer wieder die Stichworte ‹Spitzendeckung› und ‹Netto-Null›. Die Spitzendeckung wird heute meist über fossile Brennstoffe erreicht. Welche Ersatzstrategien gibt es Ihrer Meinung nach?

Das ist ein sehr schwieriges Thema und wirtschaftlich eine heikle Frage. Man kann mit Holz oder mit einer Wärmepumpe eine gewisse Spitzendeckung erreichen, aber um mit einem fossil, sprich: heute mit Gas oder Öl beheizten Kessel konkurrieren zu können, muss einiges geschehen.

Alternativ dazu gibt es in thermischen Netzen Ansätze, die Wärmespeicher beinhalten und damit auch deutlich weniger fossile Spitzendeckung benötigen als bisher. Mit einem entsprechend dimensionierten Speicher kann man Spitzenzeiten gut überstehen. Das ist technisch nichts Neues, wurde aber vor 10 Jahren noch nicht ernst genommen. Heute darf man im Rahmen der Netzplanung zumindest davon sprechen. Ich denke, die Speichertechnologie wird in Zukunft einen grossen Stellenwert einnehmen, um Netto-Null zu erreichen.

Aber vielleicht wäre es richtiger, wenn wir die Diskussion anstelle ‹Netto-Null› in Richtung ‹Netto-sehr-wenig› führen würden. Typischerweise liegt die Fossildeckung heute bei etwa 20 Prozent. Wenn wir diese auf 5 Prozent reduzieren könnten, wäre mit einem vier Mal geringeren Bedarf an fossilem Brennstoff schon viel erreicht. Diese Quote auf Null zu bringen müssten wir uns sehr teuer einkaufen. Sich einen gasbefeuerten Kessel daneben zu stellen oder den bereits vorhandenen stehen zu lassen, muss ja nicht gleich heissen, dass man zum Energieverschwender wird. Es wäre einfach eine Reserve zur Spitzendeckung, die hoffentlich nie benötigt wird.

Wie steht es grundsätzlich mit der Technologie im Bereich Fernwärme? Gibt es hier noch Potenzial, etwas besser oder effizienter zu machen?

Es gibt in der klassischen Fernwärme eine etablierte Technik mit einem guten Entwicklungsstand. Für Niedertemperaturnetze, die man erst seit etwa 10 bis 15 Jahren baut, gibt es sicher Potenzial nach oben. Allerdings ist jetzt noch nicht abzusehen, wohin sich die Praxis entwickelt. Ganz grundsätzlich lassen sich mit der heutigen Technik gute, effiziente Anlagen gestalten. Das grosse Potenzial liegt aus meiner Sicht darin, das vorhandene Know-how besser zu nutzen. Es passiert leider immer noch viel zu häufig, dass Anlagen überdimensioniert oder die lokalen Gegebenheiten nicht berücksichtigt werden. Richtig gemacht, könnte manche Fernwärmeinstallation wahrscheinlich bis zu 30 Prozent günstiger funktionieren.

Das heisst, damit sich Fernwärme dahin entwickeln kann, wo sie uns tatsächlich den Nutzen bringt, den wir uns wünschen, brauchen wir mehr Ausbildung und Wissen rund um das Thema Fernwärme?

Absolut. Um solche komplexen Infrastrukturen zu errichten und aufrechtzuerhalten braucht es Fachpersonen mit entsprechendem Know-how. Leider spüren die Unternehmen auch in dieser Branche den Fachkräftemangel. Fundiertes Grundlagenwissen über die Funktionsweise von Fernwärmeanlagen geht aufgrund von Pensionierungen zunehmend verloren. Und bis vor 8 Jahren gab es in der Schweiz noch kein Grundlagenwerk zum Thema «Wie funktioniert Fernversorgung». Mit unserer Arbeit an der Hochschule und den entsprechenden Aus- und Weiterbildungsangeboten möchten wir dem natürlich auch entgegenwirken. In diesem Kontext denke ich auch, dass die Forschung eine gewisse Erweiterung erfahren darf. So dürften anwendungsbezogene Fragen, die einen erkennbaren volkswirtschaftlichen Fortschritt bringen, durchaus mehr in den Vordergrund rücken.

Herr Prof. Ködel, herzlichen Dank für das Gespräch.

Bildnachweis: iStock/parkorn sungkapukdee (Titelbild)