transfer Ausgabe 01 | 2019

Das vergessene (?) Gas

Energieträger mit Perspektive

Im Mai 2017 hat das Schweizer Stimmvolk über ein neues Energiegesetz abgestimmt und damit die sogenannte ‹Energiestrategie 2050› auf den Weg gebracht. Der wohl bekannteste Eckpunkt darin ist der beschlossene mittelfristige Ausstieg aus der Atomenergie. Gleichzeitig sollen die Energiesysteme ‹erneuerbarer› und effizienter werden. Welche Rolle spielt dabei Gas? Wir haben Daniela Decurtins, Direktorin des Verbands der Schweizerischen Gasindustrie (VSG), dazu befragt.

Frau Decurtins, über die Rolle der Gasversorgung liest man nicht gerade viel in der Energiestrategie 2050. Ging das schlicht vergessen?

Die Energiestrategie 2050 ist stark stromfokussiert und damit für mich im besten Fall eine Stromstrategie. Eigentlich befremdlich, wenn man bedenkt, dass der elektrische Strom nur etwa 25% des Energieverbrauchs in der Schweiz ausmacht. Gas trägt immerhin 14% dazu bei, mit einem Anteil von über 50% ist der wichtigste Energieträger nach wie vor das Erdöl.

Auch wenn ich über die Rolle der Gasversorgung, vor allem im Kontext des Ausbaus erneuerbarer Energien, weniger Explizites lese als ich mir gewünscht hätte, so hat die angenommene Energiestrategie doch etwas Gutes: Die vorgängige Diskussion, die vor allem ideologisch geführt wurde, ist abgeschlossen. Mit der Legitimation durch das Volk können jetzt die tatsächlichen Problemstellungen adressiert und diskutiert werden.

«In der Energieversorgung benötigen wir eine Gesamt­perspektive. Häufig fehlt noch das sektoren­übergreifende Denken.»

Daniela Decurtins, Direktorin des Verbands der Schweizerischen Gasindustrie (VSG)


Ein grundsätzlicher Kritikpunkt an der Energiestrategie 2050 ist aus unserer Sicht, dass eine Gesamtperspektive fehlt. Nämlich wie es überhaupt gelingen kann, die neuen erneuerbaren Energien stärker in das System zu integrieren und damit den CO2-Ausstoss zu senken. Dazu müssen die bisher isoliert betrachteten Bereiche Strom, Wärme und Verkehr intelligent miteinander verknüpft werden. Man spricht in diesem Zusammenhang von Sektorkopplung.

Welche Problemstellung fällt Ihnen dabei als Erstes ein?

Die Frage nach der Versorgungssicherheit beispielsweise. Sie ist relativ rasch auf die politische Agenda gelangt: Im Winter ist die Schweiz abhängig von Stromimporten. Das ist, wenn man so will, die Doppelmoral der Schweizer Klimapolitik. Denn der Importstrom stammt zu grossen Teilen aus Kohle- oder Kernkraftwerken.

Zur Sicherung der Energieversorgung kann Gas allerdings einen entscheidenden Beitrag leisten. Es hat eine hohe Energieeffizienz – durch Wärmekraftkopplung lässt sich mit einem sehr hohen Wirkungsgrad im Winter heizen und gleichzeitig Strom produzieren. Mit der verstärkten Nutzung von Biogas erhöhen wir zudem den Anteil der erneuerbaren Energien im Mix und senken den CO2-Ausstoss. Und drittens, eines der stärksten Argumente: Gas kann uns als saisonales Speichermedium dienen.

Können Sie dies näher beschreiben?

Im Unterschied zum Stromnetz besitzt das Gasnetz eine Besonderheit: Es kann Energie nicht nur transportieren, sondern auch speichern. Und beim Umbau der Energieversorgung mit einem immer grösseren Anteil erneuerbarer Energien, die unregelmässig anfallen wie Sonnen- und Windenergie, braucht es Speicherlösungen. Batterien und Stauseen dienen der kurzzeitigen Pufferung. Wie überbrücken wir aber kalte und sonnenarme Wintertage? Mit Gas als Medium schafft man saisonale Speicher, indem man den überschüssigen Strom aus Photovoltaik- oder Windenergieanlagen methanisiert und im Gasnetz, Röhrenspeichern und Kavernen bevorratet. In Europa gibt es gigantische unterirdische Hohlräume. So könnte man das Potenzial der erneuerbaren Energieträger ‹Sonne› und ‹Wind› besser nutzen und den Ausstieg aus der Kernenergie schaffen.

Das ist das, was ich mit ‹Gesamtperspektive› meine: eine Strategie, die alle Netze und die verschiedenen Energieträger integriert. Und diese in einem Gesamtsystem so ausrichtet, dass wir unsere Zielsetzung, sprich: die im Pariser Abkommen vereinbarte CO2-Reduzierung, erreichen. Dabei spielt Gas eine wichtige Rolle. Dies wird inzwischen immer mehr anerkannt. Die Strombranche greift die Themen der Sektorkopplung oder Netzkonvergenz auf und nimmt die Aspekte von Gas als Beitrag zur Versorgungssicherheit ernst. Ich denke, da hat sich das Umfeld seit der Abstimmung stark gewandelt.

Aber Gas ist immer noch ein fossiler Energieträger, von denen wir uns doch verabschieden wollen?

In der Diskussion geht bisweilen vergessen, dass Gas Treibhausgasreduktionen ermöglicht, die in kurzer Zeit umgesetzt werden können. Das gilt für den Wärmebereich und in der Industrie, im Verkehr sowie für die Stromerzeugung. Der Bund geht in seinen Energieperspektiven entsprechend davon aus, dass Gas auch in Zukunft nach wie vor eine wichtige Rolle spielen wird, insbesondere auch in der Industrie.

Die Schweizer Gaswirtschaft ist zudem eine Wegbereiterin in der Verwendung von erneuerbarem Gas. Wir waren 1997 die ersten in Europa, die Biogas ins Netz eingespeist haben. Den Bio-Anteil haben wir sukzessive ausgebaut, indem wir mit Einspeisevergütungen und Einmalinvestitionsbeiträgen die Biogasproduktion fördern, dies als Korrektiv zur KEV. Die KEV fördert zwar die Verstromung von Biogas, aber der Energienutzen des ins Netz eingespeisten Biogases ist höher. Dessen Anteil haben wir in den letzten Jahren verzehnfacht.

«Wir haben uns das ambitionierte Ziel gesetzt, bis ins Jahr 2030 den Anteil an erneuerbarem Gas im gasversorgten Wärmemarkt auf 30 Prozent zu steigern.»

Grosses Potenzial hierfür besteht vor allem in der Landwirtschaft. Einziges Problem dabei: Die Biomasse ist dezentral verteilt. Eine entsprechende Logistik, um diese an einem zentralen Ort in Biogas umzuwandeln, ist aufwändig. Von daher sind punkto Wirtschaftlichkeit gewisse Grenzen gesetzt.

Bleibt Gas für Sie eine Option auch für Städte und Gemeinden, die sich als Energiestädte mit Vorbildcharakter verstehen?

Auf jeden Fall. Gas kann einen wichtigen Beitrag leisten für eine effiziente und erneuerbare Energieversorgung. Eine grossangelegte deutsche Studie, die Dena-Leitstudie, zeigt sehr schön, dass ein Energiesystem mit einem Mix unterschiedlicher Energieträger, Infrastrukturen und Anwendungen kostengünstiger ist als ein System mit einem hohen Anteil an Elektrifizierung in den verschiedenen Sektoren. Gemäss dieser Studie ist gerade auch in Hinblick auf das Erreichen der Klimaziele eine sektorübergreifende Betrachtung sinnvoll, die eben Gas und seiner Infrastruktur eine bedeutende Rolle zuspricht.

Mitunter stellt sich damit aber eine ganz andere, eine gesellschaftspolitische Frage: Wenn wir wirklich unsere Energieversorgung dekarbonisieren wollen – was ist uns saubere Energie wert?

Ich meine, dass eine solche Diskussion immer im Zieldreieck aus Versorgungssicherheit, Klimafreundlichkeit, aber eben auch Wirtschaftlichkeit zu führen ist. Wir dürfen letzteres nicht aus den Augen verlieren. Wenn man die Gaswirtschaft anschaut, hält der Wärmemarkt zwar den grössten Anteil, aber immerhin ein Drittel geht in die Industrie. Bei Hochtemperaturprozessen gibt es im Grunde keine Alternative zu Gas – ausser Öl, das einen deutlich höheren CO2-Anteil aufweist. Energiekosten sind ein wichtiger Standortfaktor. Wenn man der Industrie enorme Kosten auferlegt, indem Gas aus dem Gebäudebereich verdrängt wird und die Industrie für die Netzkosten aufkommen muss, dann wird die Industrie entweder auf Öl umsatteln oder es werden mittelfristig Arbeitsplätze verloren gehen, weil die Kosten zu hoch sind.

Wir müssen der Gasversorgung Sorge tragen, denn sie wird eine wichtige Aufgabe im Rahmen der Energiestrategie 2050 haben. Wenn es die Gasnetze nicht mehr gibt, weil man ihnen zu wenig Sorge trägt, dann verfügen wir nicht mehr über deren Potenzial im Rahmen eines integrierten Gesamtsystems. Dieses Bewusstsein ist in den politischen Kreisen, geschweige denn bei der Bevölkerung, noch nicht verankert.

Wie gelangt eine solche Diskussion an ‹die Basis›, die Bevölkerung?

Die Diskussionen in den Kantonen über die Energiegesetze etwa haben einen solchen Effekt. Mit den ‹Mustervorschriften der Kantone im Energiebereich› (MuKEn) hat die Energiedirektorenkonferenz Regeln für den Gebäudebereich erstellt, welche die Bauplanung und die Bewilligungsverfahren gesamtschweizerisch vereinheitlichen und vereinfachen sollen. In welcher Form die Kantone jedoch diese Empfehlungen in ihren kantonalen Erlassen umsetzen, darüber entscheiden sie selbst, und manchmal eben das Stimmvolk wie zuletzt in Luzern, Solothurn und Bern. Die Ablehnung in Solothurn und Bern zeigen, dass eine Übernahme der Bestimmungen der MuKEn ohne Einbezug der betroffenen Hauseigentümer nicht mehrheitsfähig ist.

Grundsätzlich geht es bei den MuKEn darum, den Energieverbrauch in Gebäuden zu minimieren mit dem Ziel, CO2 zu reduzieren. Dazu sind verschiedene Möglichkeiten vorgesehen, etwa Investitionen in die Gebäudehülle oder kombinierte Lösungen mit Photovoltaik oder Solarthermie. In der MuKEn beschrieben ist auch, dass ‹beim Ersatz eines mit Heizöl oder Gas betriebenen Heizkessels in Wohnbauten die Gelegenheit zu nutzen ist, künftig einen Teil der Wärme aus erneuerbaren Quellen zu gewinnen›. Und: Der Anteil an nichterneuerbarer Energie darf 90 Prozent des massgebenden Bedarfs nicht überschreiten. Absolut stossend ist, dass auch die Anerkennung von Biogas als erneuerbarer Energieträger fehlt.

«Wir wirken schon seit langem darauf hin, dass Biogas als erneuerbarer Energieträger in den kantonalen Energievorschriften anerkannt wird.»

Wir sind der Auffassung, dass die Mustervorschriften eindeutig zu stark reguliert sind und einen Eingriff in die Eigentumsrechte darstellen. In der Umsetzung ist das für den Eigentümer zu kostenintensiv und führt letztlich zu einem Sanierungsstau. Zudem werden erneuerbare Energieträger ungleich behandelt. Wir drängen deshalb schon länger auf einen Systemwechsel, weg vom Einzelobjekt hin zur Systembetrachtung. Ganz im Sinne der Gesamtversorgungsperspektive. Die Widerstände von Hauseigentümern, Gewerbe und Industrie, wie sie sich etwa in Solothurn gezeigt haben, sollten den kantonalen Regierungen zu denken geben.

Immer wieder hört man, Gas stamme aus ‹unsicheren› Ländern und unsere Abhängigkeit sei gross. Stimmt das? Wären die ‹saisonalen Speicher› ein entsprechendes Gegengewicht?

Saisonaler Speicher heisst, dass wir die Überschussenergie vom Sommer im Winter verfügbar machen. Aber das macht uns nicht unabhängig von Zulieferern. Etwa zwei Drittel unserer Gasimporte stammen aus Norwegen, Holland und Deutschland. Russland liefert einen weiteren Drittel hinzu.

Früher war der Transport von Gas sehr stark pipelinegebunden. Das löste natürlich immer intensive geopolitische Diskussionen aus, durch welche Länder eine Pipeline läuft. Inzwischen sind unsere möglichen Bezugsquellen jedenfalls sehr diversifiziert. Ein neues Potenzial entsteht auch daraus, Erdgas als Flüssiggas – sogenanntes ‹Liquefied Natural Gas› (LNG) – verschiffbar zu machen. Dabei wird es auf -160 °C heruntergekühlt, was natürlich Energie braucht. Aber: Man kann es transportieren. Damit lassen sich neue Gasquellen in Ländern erschliessen, durch die keine Pipelines nach Europa führen. Dies eröffnet ganz neue Möglichkeiten, auf dem internationalen Markt Gas zu beschaffen.

Lohnt sich also Gas? Oder anders gefragt: Wie denken wir die Energiestrategie 2050 ganzheitlicher?

Gas hat im Grunde ein gutes Image. Leider wird es aber von vielen zusammen mit Öl in denselben Topf der fossilen Energieträger geworfen. Das hat die Sicht auf eine differenzierte Betrachtungsweise verstellt.

«Die Gaswirtschaft liefert nicht nur einen Energieträger, sondern verfügt ebenso über eine gut ausgebaute Infrastruktur.»

Das ist das eigentliche Vermögen der Gasversorger – Milliardenwerte, gerade unter dem Aspekt der angestrebten Sektorkopplung. Das gehört den Versorgungsunternehmen, die wiederum in den allermeisten Fällen im Besitz der öffentlichen Hand, sprich: den Bürgerinnen und Bürgern, sind.

Nach vorne gedacht fehlt meiner Meinung nach ein sektorübergreifendes Denken und aus Sicht der Anbieter dann auch ein übergreifendes Produktangebot. Viele Gasversorger sind Teil eines Querverbundunternehmens, aber die Versorgung der Kunden erfolgt nach Sparten: Wasser, Strom, Gas, Fernwärme und so weiter. Dabei bietet es sich doch an, neue Geschäftsmodelle, beispielsweise zur Sektorkopplung, zu entwickeln. Das wird sich vielleicht zu diesem Zeitpunkt nicht gleich in klingender Münze darstellen lassen, aber die Betreiber könnten Erfahrungen sammeln mit ‹Bündelprodukten›. Das ist eine Investition in die Zukunft.

Letztlich geht es doch bei der Energieversorgung um eine Gesamtperspektive. Da kann man nicht nur einen Bereich optimieren. Aber für ein stärker übergreifendes Denken ist mitunter ein Kulturwandel notwendig.

Zusammengefasst?

Städte und Gemeinden müssen sich darüber im Klaren werden, wohin sie ihre Energieversorgungsunternehmen entwickeln wollen: Will ich möglichst viel Geld verdienen, um kommunale Aufgaben zu finanzieren? Oder investiere ich einen Teil des Gewinnes in zukunftsfähige Energieprojekte, die Wind, Sonne oder Biogas nutzen? Und: Sehe ich den Wert der verschiedenen Energieträger und deren Netze? Beispielsweise auch im Hinblick auf die Winterversorgung oder auf die CO2-Reduktion in der Wärmeproduktion? Ich denke mir, wenn ein Versorger dafür eine Strategie hat, dann hat er auch ein Dach, unter dem sich die Umsetzung ableiten lässt. Deshalb sollten die Unternehmen im Rahmen der Eigentümerstrategie die angesprochenen Zielkonflikte adressieren – und klären.

Eine wichtige Rolle kommt ausserdem den angesprochenen kantonalen Energiegesetzen zu. Ich würde mir wünschen, dass hierzu vermehrt eine öffentliche Diskussion geführt wird.

Herzlichen Dank für das Gespräch.

Bildnachweis: iStock/Valerii Vtoryhin (Titelbild)