transfer Ausgabe 02 | 2018

Gemeinsam besser

Fusion von Gemeinden und Versorgern schafft Mehrwert

Die Stadt Bellinzona im Schweizer Kanton Tessin fusionierte 2017 mit zwölf weiteren Gemeinden in der Umgebung. Dadurch änderte sich auch die Situation der Ver- und Entsorgung in der Region. Wir sprachen mit Mauro Suà, Direktor der Azienda Multiservizi Bellinzona, über seine Erfahrungen – über die Herausforderungen und überaus positiven Resultate dieses Prozesses.

Herr Suà, was waren die Hintergründe der Gemeindefusion?

Wie in anderen Teilen der Schweiz sucht man ebenfalls im Kanton Tessin nach Möglichkeiten, Ressourcen zu bündeln, sie besser zu nutzen und so auch die Kostensituation zu optimieren. Eine Verschlankung der Strukturen durch eine Gemeindefusion ist dafür ein vielversprechender Ansatz, wie beispielsweise die Entwicklung der Stadt Lugano zeigte. Zum 1. April 2017 fusionierte die Stadt Bellinzona mit zwölf umliegenden Gemeinden – und ist damit von bisher 18'000 auf 45'000 Einwohner gewachsen.

Welche Folgen hatte das für die Ver- und Entsorgungsbetriebe?

Wir hatten zwei Aufgaben vor uns: Das eine war natürlich die operative Anpassung, das Zusammenführen von Betrieben und Infrastrukturen. Wir meisterten jedoch gleichzeitig eine organisatorische Herausforderung, da wir im Zuge der Fusionierung von Stadt und Gemeinden die ehemaligen Stadtwerke Bellinzona, die «Aziende Municipalizzate Bellinzona» aus der Stadt herauslösen und in eine öffentlich-rechtliche Einrichtung überführen konnten. Damit haben wir Rahmenbedingungen geschaffen, um uns zu einem modernen Querverbundunternehmen für diese Region zu entwickeln – mit zahlreichen Dienstleistungen in der Ver- und Entsorgung, aber ebenso in Bereichen wie der Telekommunikation, der erneuerbaren Energien und der Elektromobilität. Die Stadt Bellinzona hält 100% der Anteile an der «AMB», wobei das «M» in unserem Namen nun für «Multiservizi» steht. Auch damit wollen wir unseren neuen Anspruch unterstreichen.

Was hiess und heisst das konkret für die Wasserversorgung?

Bisher waren die Wasserleitungsnetze der Stadt und der umliegenden Gemeinden unabhängig, völlig getrennt. Mit der Zusammenlegung mussten wir 13 Netze unter einen Hut bringen. Und dabei haben wir vollkommen unterschiedliche Situationen vorgefunden. Einige Gemeinden hatten schon dediziertes Personal und verfügten über entsprechende Infrastrukturen, andere Gemeinden haben ihre Netze eher weniger professionell betrieben. Teilweise gab es noch nicht einmal Verlegepläne der Leitungen. Das war sehr herausfordernd für uns. Wir waren verantwortlich, hatten aber nicht die Instrumente um zu arbeiten. Jetzt kartografieren wir Zug um Zug die Leitungen, damit wir in Notfallsituationen schneller reagieren können.

Wir mussten ausserdem beurteilen, welche Teile des Netzes es sich zu erhalten lohnt, wo wir renovieren oder was wir sogar komplett neu aufbauen müssen. Einige Quellen beispielsweise haben wir geschlossen, weil deren Qualität nicht mehr genügte. Dafür werden neue erschlossen, die nach und nach in unser Wasserkonzept integriert werden – aktuell z.B. gerade im Morobbiatal.

Anfang 2018 haben wir zudem eine neue Grundwasserpumpstation und eine zentrale Hauptwasserleitung, die quer durch die Stadt verläuft, in Betrieb genommen. Das ist praktisch unsere «Hauptschlagader», welche inzwischen fast alle Teilnetze verbindet und die uns eine bessere Verteilung des Wassers erlaubt. Acht Jahre wurde bereits daran gebaut und nun war es ein glücklicher Zufall, dass die Inbetriebnahme zum selben Zeitpunkt wie die Fusionierung geschah. So können wir im Notfall auf Grundwasser und zahlreiche verschiedene Quellen zugreifen. Das erhöht die Versorgungssicherheit.

Wurden Sie in der Elektrizitätsversorgung vor ähnliche Herausforderungen gestellt?

Da war die Situation eine andere. Bis auf vier der ursprünglichen Gemeinden versorgte die AMB bereits alle umliegenden Gemeinden mit Strom. Im April 2017 haben wir die Netze dieser vier Gemeinden gekauft und inzwischen integriert.

«In lediglich acht Monaten mussten wir kilometerlange Leitungen realisieren um unser bestehendes Netz mit denen der neuen Gemeinden zu verbinden.»

Aber nicht nur das: Auch die Stromzähler mussten ersetzt werden. Das war sehr herausfordernd, trotz allem haben wir es geschafft. Am 1. Januar 2018 wurden alle Kunden aus unserem Netz versorgt.

Werden die Teilnetze weiterhin autonom geführt?

Nein. Unser Ziel war es, alle Netze von einer Stelle aus zu betreiben. Die 13 Wasserversorgungsnetze hatten teilweise veraltete oder sogar überhaupt keine Leittechnik. Gemeinsam mit Rittmeyer haben wir daran gearbeitet, wie wir alle Netze von einem zentralen Ort aus betreiben und kontrollieren können. Dazu erneuern und erweitern wir die Leittechnik der kompletten Versorgung.

Wie stellte sich das Personal auf die neue Situation ein?

Einige Bedienstete kamen von einer kleinen Gemeinde in eine grosse Organisation. Das war sicher nicht immer einfach. Aber die meisten sahen die Zusammenlegung wirklich als Gelegenheit, sich weiterzuentwickeln und sind inzwischen voll integriert.

Die technischen Herausforderungen beschäftigten uns tatsächlich viel mehr. Genauso der Prozess der Preisgestaltung in der Versorgung – der war auch nicht einfach. Wir mussten einen Mittelwert finden für bisher sehr unterschiedliche Niveaus. Einige Kunden müssen jetzt mehr bezahlen, andere weniger als zuvor.

Alle erwarten doch von einer Fusion, dass die Kosten sinken?

Natürlich gibt es da und dort Potenziale für Einsparungen. Im Wesentlichen sehe ich den Nutzen einer Fusion jedoch in der Erhöhung der Versorgungsqualität. Beim Wasser beispielsweise kann man nicht mehr sparen. Ja, es ist richtig, einige Gemeinden hatten Wasserpreise, die tiefer waren als unsere heutigen. Nur: In diesen Gemeinden wurde nichts investiert, das Netz war teilweise in einem eher desolaten Zustand. Also muss man sanieren oder neu bauen, und daraus entstehen mitunter Mehrkosten. Aber am Ende erhalten unsere Kunden eine Qualität und einen Service, auf die sie sich verlassen können.

Preiserhöhungen zu argumentieren ist ja eher schwierig?

Das führt zu Diskussionen, stimmt. Wir versuchen deshalb, die Hintergründe transparent zu machen. Zum Beispiel mit Versorgungssicherheit. Wir stellen sicher, dass die beste Wasserqualität kostengünstig nutzbar ist. Regionen, in denen Quellen aufgrund nicht mehr ausreichender Qualität geschlossen werden müssen hätten ein ernstes Problem, wenn sie nicht auf das Wasser aus anderen Quellen zurückgreifen könnten.

«Mit der Zusammenlegung stellen wir sicher, dass alle die beste Wasserqualität bekommen.»

Wir können auch viele weitere positive Ergebnisse aufzeigen, die aus den Synergien des Querverbunds entstanden sind. So soll jeder Haushalt in unserer Versorgungsregion dieselbe moderne Telekommunikations-Infrastruktur bekommen – eine Glasfaserleitung bis zum Haus. Wir investieren in erneuerbare Energien und forcieren den Ausbau der Ladeinfrastruktur für Elektrofahrzeuge. Das alles sind Dinge, welche einem grossen Betreiber definitiv leichter gelingen, oder vielleicht erst ab einer gewissen Grösse überhaupt realisierbar werden. In Summe schafft eine Fusion eine höhere Qualität der Dienstleistungen, in allen Regionen, für alle Kunden.

Welche Aufgaben stehen als Nächstes an?

Wir hatten von Anbeginn eine Vision, die wir «Wasser in 360°» nennen – die Bewirtschaftung des Wassers von der Quelle bis zur Reinigung und Wiederrückführung in den Kreislauf. Deshalb wird zum 1. Januar 2019 auch der heutige Abwasserreinigungsverband in die AMB integriert. Aus gemeinsamer Planung und Betrieb von Versorgung und Entsorgung lassen sich viele Synergien erkennen und zukünftig die Anlagen effizienter betreiben.

Und wir können damit auch ein für mich wichtiges Zeichen setzen: Unsere Kunden sehen nun dank einer gemeinsamen Rechnung für Trinkwassernutzung und Abwasserreinigung die Zusammenhänge zwischen verbrauchtem und gereinigtem Wasser genau. Ich bin davon überzeugt, dass dies nicht nur hilft, einen angemessenen Preis für Trinkwasser zu argumentieren, sondern ebenso beim Verbraucher die Sensibilität für den Wert des Lebensmittels Trinkwasser zu erhöhen.

Zusammengefasst: Welches Fazit können Sie heute ziehen, mehr als ein Jahr nach der Fusion?

Wir haben von der Stadt den Auftrag bekommen, das Querverbundunternehmen für die Region zu werden. Diese neue Epoche, ich nenne sie einmal «die AMB 2.0», hat unseren Mitarbeitenden neue Motivation geliefert und dazu geführt, dass die Dienstleistungen nicht mehr begrenzt auf die Gemeinde, sondern regional konzipiert werden. Das ist meines Erachtens ein Schlüssel zum Erfolg.

«Dank der neuen Selbstständigkeit können wir schneller, besser und dynamischer agieren.»

Dieses Plus an Kundennähe anerkennen auch unsere Kunden. Sie haben immer denselben Ansprechpartner und ganz verschiedene Möglichkeiten, diesen zu erreichen: ob über das Internet, im lange geöffneten neuen Infocenter in der Stadt oder immer noch direkt in den ehemaligen umliegenden Gemeinden.

Absolut entscheidend war und ist eine aktive Kommunikation der verfolgten Strategie und der daraus entstehenden Vorteile für die Bevölkerung – erhöhte Versorgungssicherheit, bessere Wasserqualität, neue Dienstleistungen. Wir nutzen dazu Kanäle in den sozialen Medien, Newsletter, das Internet und eine regelmässig erscheinende Kundenzeitschrift. Zudem haben Bürgermeister und Stadtrat in jeder der ehemals eigenständigen Gemeinden nach einem Jahr die Fusion rekapituliert und sich Fragen und Kritik aus der Bevölkerung gestellt. Das war sicher auch sehr wichtig.

Herzlichen Dank für das Gespräch.