transfer Ausgabe 02 | 2017

Zukunft heute?!

Weshalb Energieversorgungsunternehmen agieren sollten

Mit der Energiestrategie 2050 hat der Schweizer Bundesrat eine Entwicklung angestossen, die den Energieversorgungsmarkt spürbar verändern wird. Schonung der Energieressourcen, Ausstieg aus der Kernenergie und der Umstieg auf erneuerbare Energien sind die Ziele. Prof. Dr. Jürg Bichsel, Leiter des Instituts ‹Energie am Bau› der Fachhochschule Nordwestschweiz hat sich im Rahmen des Projekts ‹Energy Chance›* intensiv mit der Realisierung eines regionalen Energieverbunds auseinandergesetzt und kennt die Herausforderungen, denen sich Energieversorgungsunternehmen (EVU) zukünftig stellen müssen.

Herr Prof. Bichsel, Sie haben sich intensiv mit der Entwicklung des Schweizer Energieversorgungsmarktes bis zum Jahr 2035 beschäftigt. Was ist die Quintessenz Ihrer Erkenntnisse?

Sicher ist, dass der Energieversorgungsmarkt in den kommenden 20 Jahren einschneidende Veränderungen erleben und deutlich anders aussehen wird als heute. Zum einen wird sich die Stromproduktion weg von der Atomenergie hin zu den erneuerbaren Energien verlagern. Verbraucher werden mehr und mehr auch zu Produzenten. Photovoltaikanlagen (PV), Elektrofahrzeuge und Batteriespeicher werden in einer Vielzahl der Haushalte für ein gänzlich neues Abnehmerverhalten sorgen. Diese Veränderungen dürfen Energieversorgungsunternehmen nicht verschlafen: Wollen sie konkurrenzfähig, oder vielleicht noch deutlicher gesprochen überlebensfähig bleiben, müssen sie diesen Wandel schon heute aktiv mitgestalten und neue Geschäftsmodelle entwickeln.

Können Sie ein konkretes Beispiel dafür nennen, weshalb ein Umdenken der Energieversorgungsunternehmen gefragt ist?

In Zukunft werden erneuerbare Energien, und hier im Schwerpunkt neben der Wasserkraft vor allem die Photovoltaik, einen nicht unerheblichen Anteil des Strombedarfs in der Schweiz decken. Schon heute können sich Haushalte, die eine entsprechend dimensionierte Anlage und einen Batteriespeicher besitzen, praktisch von April bis September autark versorgen.

«Was immer wieder übersehen wird, ist, dass der Preis für PV und im Grunde auch für Batteriespeicher um 20% sinkt – bei einer Verdoppelung der Stückzahlen.»

Das ist keine kontinuierliche, lineare Entwicklung, das ist eine exponentielle Veränderung. Immer mehr Menschen werden in diese Technologien investieren und versuchen, ihren Selbstversorgungsgrad mit Strom zu maximieren und so Netznutzungsgebühren zu sparen. Diese ‹Autarkisten› brauchen im Sommer das EVU nicht, im Winter jedoch schon. Das verlangt doch nach ganz neuen Tarifmodellen.

In Ihrem Projekt erforschen Sie den regionalen Energieverbund aus verschiedenen Perspektiven. Welche Herausforderungen kommen insbesondere dabei auf Energieversorgungsunternehmen zu?

Durch den konsequenten Zubau von Photovoltaikanlagen, die Installation von Batteriespeichern, die vermehrte Durchdringung des Marktes mit Elektrofahrzeugen und dem Einsatz energetisch günstiger Wärmepumpen mit ihren Pufferspeichern stehen auf relativ kleinem Raum eine Vielzahl an Stromerzeugern, -speichern und -verbrauchern zur Verfügung, die, intelligent bewirtschaftet, einen eigenen Lastausgleich schaffen. So etwas können Genossenschaften oder Eigentümergemeinschaften als autarke Einheit in einem lokalen Energieverbund im Grunde eigenverantwortlich betreiben. Rechtlich ist dies durchaus schon heute möglich. Und: Es gibt das Gesetz, das besagt, dass ich keine Netzgebühren bezahle, wenn ich es nicht nutze. In einem solchen Szenario fallen für das EVU dann grosse Gruppen bislang von ihm direkt bedienter Abnehmer unwiederbringlich weg.

Die Frage stellt sich also, wie – oder womit – EVU auch in Zukunft überleben können. Eine Antwort könnte sein, dass sie in solchen Zusammenschlüssen Dienstleistungen anbieten, welche sie bereits heute zu ihren Kernkompetenzen zählen: Die Energiekostenverrechnung oder die Optimierung des Energiemanagements beispielsweise sind nicht einfach zu bewerkstelligen – so etwas könnte ein EVU an kleinere Energieverbünde verkaufen. Solche Ansätze stellen jedoch für die heutigen EVU ein ganz neues Geschäftsmodell dar.

Aber ist die Orientierung an Quartieren nicht zu klein gedacht?

Nein, der Blick auf das Quartier ist vielversprechend und wir sind davon überzeugt, dass regionale Energieverbünde die Zukunft sind. Natürlich stellt sich die Frage, wie man Strom aus PV ins Netz integriert. Aber mit einem entsprechend dimensionierten Batteriespeicher lassen sich die gefürchteten und deshalb häufig zitierten Leistungsspitzen im Netz leicht puffern. Diese Technologie ist vorhanden. Das lokale Netz selber stellt keinen Engpass dar, das haben unsere Untersuchungen gezeigt. Auch nicht unter dem Aspekt der Gleichzeitigkeit. Die lokale Installation hat ‹genügend Kupfer›, da wird eher überdimensioniert verlegt. Worauf man natürlich achten muss, ist eine kluge Auslegung der lokalen Transformatoren.

Zugegeben, Herausforderungen könnten im ländlichen Raum entstehen, dort wo lange Stichleitungen zu einzelnen Installationen mit grossen PV-Erzeugern gehen. Aber sicher nicht im städtischen Raum. Strukturschwache Gebiete, die weit auseinander liegen, benötigen dann eben intelligentere Lösungen, bspw. indem eine Batterie zwischengeschaltet ist, die Leistungsspitzen ‹dämpft› – und die Energie dann über einen längeren Zeitraum verteilt ins Netz einspeist. Das ist eine Alternative zum Netzausbau.

Mit diesen Zukunftsaussichten sind Verantwortliche doch eigentlich sofort zum Handeln aufgerufen …

Natürlich sollten sich die Energieversorger für die Quartiere interessieren und treffende Lösungen dafür entwickeln. Wie wenig ein Weiterdenken stattfindet zeigt sich ebenso am Beispiel, dass in der Schweiz für die Installation einer Elektroheizung oder einer Wärmepumpe mit 5 kW Anschluss­leistung eine Bewilligung benötigt wird, für den Anschluss einer 22 kW Ladestation für das Elektro­fahrzeug jedoch nicht. Das Auto stecke ich einfach ein. Aber gerade daran müssten die EVU doch ein vitales Interesse haben: Wo stehen solche Ladestationen, können diese sogar mit dem EVU kommunizieren und kann das EVU den Ladevorgang steuern, Leistungsspitzen brechen – und weitergedacht in die Zukunft: Kann das EVU gegebenenfalls auf die Batterie des Fahrzeugs als Puffer zugreifen?

Eine schlüssige Antwort darauf zu geben ist heute tatsächlich schwierig, denn es gibt noch keine umfassende Normierung in Bezug auf die Kommunikationsschnittstellen. Im Jahr 2035 schon. Nur sollten sich EVU bereits heute entsprechend vorbereiten – beispielsweise im Vordenken von entsprechenden Geschäfts- oder Abrechnungsmodellen.

Aber nicht nur EVU müssen handeln. Im Grunde müssten Gemeinden schon jetzt Energiepläne analog zu Bebauungsplänen anlegen, die festlegen, wo in Zukunft welche Energieträger (Gas, Strom, Fernwärme) und detaillierter wo Trafos, Photovoltaikanlagen und Elektrotankstellen vorzusehen sind. So wird die Basis für einen optimalen Netzbetrieb in der Zukunft gelegt.

«Im Grunde müssten Gemeinden schon jetzt Energiepläne analog zu Bebauungsplänen anlegen.»

Woran liegt diese Passivität der EVU?

Was wir gesehen haben ist, dass die EVU zwar technisch hervorragend aufgestellt sind, ein Marketing jedoch fehlt. Das hat es in den letzten hundert Jahren auch nicht gebraucht. Sie haben einfach den Strom verkauft. In den EVU war, und ist – von wenigen Ausnahmen abgesehen – in weiten Teilen immer noch alles technikgetrieben. Hier müsste ein Umdenken stattfinden und die Frage ‹Wie kann ein EVU sich in eine aktive Rolle bringen – auch im Hinblick auf eine Kundenbindung?› in den Mittelpunkt rücken.

Daneben werden wir uns auf den zweiten Schritt der Strommarktliberalisierung in der Schweizer Energielandschaft einstellen müssen. Nur: Nachdem die vollständige Liberalisierung in der Volksabstimmung 2002 scheiterte, haben sich die EVU meiner Ansicht nach wieder zurückgelehnt. Die Strommarktliberalisierung könnte der Treiber für eine Veränderung sein, aber anscheinend ist das zu weit weg.

Bei vielen Gesprächen haben wir bemerkt, dass das durchaus eine Generationenfrage ist: 2035 ist für viele der heutigen Entscheider in den EVU weit weg, sie werden bis dahin pensioniert sein. Aber dass solche Veränderungen von der nachfolgenden Führungsgeneration nicht von heute auf morgen zu bewältigen sein werden, das sehen sie allem Anschein nach noch nicht.

Ich denke, da ist vielen die Veränderungsgeschwindigkeit moderner Technologien einfach nicht bewusst. Nur als Beispiel: Die ‹Lebensdauer› eines Autos in der Schweiz beträgt heute etwa 13 Jahre. Also könnte, zugegebenermassen progressiv betrachtet, in 13 Jahren der gesamte Fahrzeugbestand ausgetauscht sein und wir würden nur noch Elektromobile auf unseren Strassen haben. Und: In fünf Jahren werden Elektromobile so weit sein, dass sie kommunizieren können und die Batterie rückspeisefähig ist.

Das alles ist weit, weit kürzer als jene Zyklen, die man gemeinhin für den Aufbau und die Amortisation von Infrastrukturen vorsieht. Nehmen wir als Beispiel nur die Studien zur Durchdringung mit Mobiltelefonie, wie sie vor 25 Jahren geschrieben wurden – und wie schnell das dann tatsächlich ging: Damals elitär, heute hat jeder eines, ich kaufe es im Supermarkt. Das wurde vollkommen unterschätzt. Und noch etwas anderes hat uns die Mobiltelefonie gezeigt, dass Quereinsteiger diesen Markt heute dominieren, die nicht aus der Telefonbranche kamen.

Welches werden dann die Treiber der Entwicklung sein?

Die Frage ist, ob der Gesetzgeber eingreift, bspw. über die Bauverordnungen, welche die Installation einer PV-Anlage bei Neubauten oder Sanierungen zwingend vorschreibt. So wie der Einbau eines Schutzraumes beim Hausbau vorgeschrieben ist, und bei Nichtrealisierung eine Ersatzabgabe fällig ist.

Natürlich muss man sich lösen von der rein wirtschaftlichen Argumentation, was das kostet, und ob das ‹rentiert›. Mir gefällt da der Ansatz der Elektrizitätswerke des Kantons Zürich (EKZ): Sie investieren in PV auf den Dächern von Mehrfamilienhäusern, betreiben diese und veräussern Anteile daran genossenschaftlich an die Mieter. So schaffen sie auch eine emotionale Bindung – der Käufer dieser Anteile, der ja als Mieter nicht selbst eine PV-Anlage bauen kann, sieht die Anlage, bezieht daraus ‹seinen› sauberen, CO2-neutralen Strom zu einem Vorzugspreis, und ist am Erfolg beteiligt. Das ist beispielsweise ein Modell, das hervorragend in der Praxis funktioniert – und die Veränderung sicherlich zu treiben hilft.

Wozu also sind Ihrer Ansicht nach EVU konkret aufgefordert?

Zusammengefasst gesagt: Bei den EVU wird ein Umdenken nötig werden. Die allermeisten sehen heute ihr Geschäft immer noch ausschliesslich im Unterhalt ihres Netzes und im Verkauf der Elektrizität: mehr Kilowattstunden, mehr Umsatz, mehr Ertrag. Ich denke, dass es da einen Paradigmenwechsel braucht – hin zum Verkauf von Dienstleistungen.

Das wird einen Umbau der Organisation bedeuten, aber auch der technischen Infrastruktur. Überlegungen zu Netzmanagement, Kommunikation oder ICT-Sicherheit, wie sie hinlänglich aus den oberen Netzebenen bekannt sind – das wird gleichermassen auf den tiefen Netzebenen NE6 und NE7 Einzug halten. Wir reden über Smart Metering, Internet der Dinge (IoT) und ähnliche Ansätze – da werden ganz andere Kommunikations- und Sicherheitsstandards erforderlich sein als heute. Und da fehlt den kleineren EVU schlicht das Know-how. Und fairerweise gesagt, vermutlich auch die Kapazität dazu. Nur: Dieses Know-how muss aufgebaut werden, die entsprechenden Vorüberlegungen eher heute als morgen getroffen werden.

Das heisst, es wird Kooperationen brauchen, Partnerschaften. Das bedeutet Hilfe zu suchen – und anzunehmen. Und eines ist klar: Die Zeiten, wo die einzige Kommunikation zum Verbraucher und Kunden der Rundsteuerempfänger ist, die sind passé.

Herr Prof. Bichsel, herzlichen Dank für das Gespräch.

* Das Forschungs- und Entwicklungsprogramm ‹Energy Chance› betrachtet die Bereitstellung, Nutzung und Akzeptanz von neuen Energieressourcen bei gleichzeitig schonendem Umgang mit der Umwelt. Zur Verwirklichung der vom Schweizer Bundesrat und Parlament beschlossenen Energiestrategie 2050 bedarf es eines ganzheitlichen Vorgehens. Im Projekt ‹Regionaler Energieverbund› wird gezeigt, wie es in Zukunft funktionieren könnte: Erzeuger, Speicher und Nutzer von Strom sollen in einem regionalen Verbund einen hohen Selbstversorgungsgrad bei möglichst ausgeglichener Leistungsbilanz realisieren. Dabei wird gezeigt, wie dies bereits im Jahr 2035 ökonomisch und ökologisch sinnvoll gelöst werden kann. Die regionale Kooperation von Energiedienstleistern wird dabei aus technischer, wirtschaftlicher, psychologischer und ökologischer Perspektive beleuchtet. Weitere Informationen finden Sie 

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