transfer Ausgabe 01 | 2019

Wasser: Freund oder Feind?

Siedlungswasserwirtschaft der Zukunft

Der Klimawandel stellt auch die Siedlungswasserwirtschaft vor grosse Herausforderungen. Hitzesommer, trockene Winter und vor allem zunehmende Starkregenereignisse bringen unsere vorhandenen Entwässerungssysteme an die Grenzen. Überflutungen nehmen zu. Wie bekommen wir diese Herausforderungen in den Griff, wenn Bemessungsgrundlagen fehlen? «Wir ­brauchen neue Planungsstrategien», sagt Prof. Dr. Max Maurer, Leiter der ­Abteilung Siedlungswasser­wirtschaft (SWW) an der Eawag.

Herr Prof. Dr. Maurer, Sie sagen, mit dem Klima­wandel wird sich auch die Siedlungs­wasserwirtschaft verändern müssen. Weshalb?

Ändern müssen wir vorderhand die Art und Weise wie wir planen, und ebenso, wie wir unsere Anlagen betreiben. Diese Prozesse müssen wir anpassen, das muss dynamischer werden. Wir müssen uns viel mehr über mögliche Risiken, beispielsweise von Starkregen, im Klaren werden, und dann schauen, dass wir im Bau und Betrieb der Infrastruktur flexibler bleiben. Wir bauen zwar für Generationen, aber wir dürfen nicht mehr für die Ewigkeit planen.

«Wir müssen der Flexibilität einen monetären Wert einräumen. Das machen wir heute zu wenig.»

Prof. Dr. Max Maurer, Leiter der Abteilung Siedlungs­wasser­wirtschaft (SWW), Eawag

Was meinen Sie damit konkret?

Der Klimawandel findet statt. Das ist unbestritten. Wir wissen aber nicht genau, welche Auswirkungen der Klimawandel konkret auf die Siedlungsentwässerung haben wird. Dazu fehlen uns die Werkzeuge und quantitative Informationen. Klimamodellierungen werden im Tagesbereich, in sehr grossen Rastern gerechnet. In der Siedlungsentwässerung interessieren uns jedoch viel kleinere Abschnitte, 10-Minuten- oder 3-Minuten-Werte. Diese Diskrepanz ist in der Wissenschaft heute noch nicht ausgeglichen. Sprich: Wir können es nicht rechnen. Und damit können wir nicht einfach einen «Faktor Klimawandel» für die Dimensionierung unserer Infrastrukturen definieren.

Das heisst, wir müssen uns sehr viel mehr an Methoden orientieren, anhand derer sich risikobasierte Entscheidungen treffen lassen. Also die Frage beantworten: «Was tun wir wenn?»

Wie kann denn das gelingen?

Aus meiner Sicht muss man die Art und Weise, wie wir planen und dimensionieren, anpassen. Ein erster Aspekt dabei sind die Planungsgrundlagen. Diese basieren heute meiner Auffassung nach auf ganz wenigen und dazu ganz schlechten Daten. Es gibt zwar gute Werkzeuge und Modelle – doch niemand verifiziert diese Modelle. Wir nutzen ein Modell, simulieren damit, machen eine Vorhersage, treffen Massnahmen, bauen Regenbecken. Aber niemand misst, ob das, was man vorhergesagt hat, auch tatsächlich eintrifft. Die wenigen vorhandenen Daten sind dann oftmals auch falsch oder ungenau. Trotzdem treffen wir auf einer solchen Basis in der Schweiz Investitionsentscheide in Milliardenhöhe. Das muss man durchbrechen. Das heisst, wir bauen viel, aber wir betreiben es nicht. Solange man Geld hat, mag das vielleicht funktionieren.

«Wir bauen nicht bedarfsgerecht, weil wir den Bedarf gar nicht genau kennen. Wir bauen einfach gross.»

Wir brauchen also belastbarere Datengrundlagen?

Das ist nur das eine. Wollen wir die Auswirkungen des Klimawandels in der Siedlungswasserwirtschaft beherrschen, gibt es einen zweiten, nicht minder wichtigen Aspekt: die Stadtplanung. Denn die fortschreitende Innenverdichtung führt zu immer grösseren versiegelten Flächen in den Innenstädten. Dem muss die Siedlungsentwässerung, und allem voran die Regenwasserentsorgung, Rechnung tragen.

Natürlich kann man Retentionsbecken bauen und einzäunen. Geschickt ist das eher nicht: Sie benötigen Platz und sind die meiste Zeit ungenutzt. Ich bin ein Verfechter von Multifunktionalität. Denn es gibt durchaus Möglichkeiten, die Flächen attraktiv zu gestalten – nicht nur um das Regenwasser zu verzögern und versickern zu lassen, sondern auch, um die Stadtökologie aufzuwerten, attraktive Grünräume zu schaffen und die Lebensqualität zu verbessern. Eine solche Planung muss allerdings früh stattfinden. Und sie muss bewusster stattfinden.

Haben Sie Beispiele?

Ein sehr gutes Beispiel ist der erste Regenwasser-­Spielplatz Deutschlands in Hamburg: Hier wurde gezielt ein Platz geschaffen, den man überschwemmen kann. Auf diesem Platz wird Regenwasser vorübergehend gespeichert und nach dem Regen langsam der Drainage, dem Oberflächenwasser oder dem Grundwasser zugeführt. Das Schöne daran: Das Regenwasser, das man dort zwischengepuffert hat, ist zu einem zentralen Element für den Spielplatz geworden.

Eine andere Idee setzt Rotterdam um: Ein grosser Teil der Dachflächen wird begrünt. Damit wurden aktive Speicherelemente geschaffen, die man bewirtschaften kann. Vermarktet wurde diese Idee aber nicht als Regenrückhaltebecken, sondern als Stadtacker (‹city-farming›) – als Schrebergärten auf dem Dach, um die Lebensqualität zu verbessern.

Das ist es, was ich mit Multifunktionalität meine: Nicht nur ein Becken bauen, um Wasser zurückzuhalten. Sondern ­Mehrwert ­schaffen.

Regenwasser als bewusster Teil der Stadtökologie – also: Freund statt Feind?

Ja, genau. Wasser ist bei einer zunehmenden Verdichtung tatsächlich lebenswichtig. Die Bebauungsdichte hat ja ihre Grenzen, man muss Luftkorridore in der Stadt erhalten. Sonst wird das Leben schwierig. Kombiniert man nun diese Korridore gezielt mit Grünflächen und nutzt sie gleichzeitig zur Regenwasserbewirtschaftung, dann hat das viele Vorteile. In den Luftkorridoren verdunstet das gepufferte Regenwasser und verschafft gleichzeitig Kühlung. Das ist wichtig, denn die Hitzeperioden im Sommer nehmen zu. Sie werden nicht nur länger andauern, sie werden auch ­häufiger auftreten.

Organisatorisch klingt das eher schwierig ...

Aus meiner Sicht wird man in Zukunft sehr viel mehr dezentrale Infrastrukturen haben. Und die muss man betreiben, managen. Dazu wird Messtechnik benötigt, ja. Vor allem jedoch sind Lösungen gesucht, wie man die gewonnenen Daten bewirtschaften, wie man mit Tausenden von Messsignalen umgehen kann.

Das ist die Herausforderung der dezentralen Strukturen: Sie müssen intelligent verwaltet werden. Im Grunde ist das die ‹Smart City›. Aber die kann man nicht aus dem Ärmel herausschütteln. Wer sich allerdings dafür verantwortlich fühlt oder fühlen sollte, ist ungeklärt.

Doch selbst wenn dies alles gelöst wäre: Es wird weiterhin Unsicherheiten geben, wie beispielsweise die Regendaten. Aber es gibt Möglichkeiten, Unsicherheiten sichtbar und damit auch quantifizierbar zu machen. Das Problem der Unsicherheiten ist nicht, dass wir nicht wissen, wie wir damit umgehen könnten. Das Problem ist eher der Diskurs, wer bestimmt, mit welcher Sicherheit wir was erreichen wollen. Ingenieure scheuen die Risikodiskussion. Sie gehen lieber mit einer bestimmten Dimensionierung in die Planung. Hier braucht es neue Wege.

«Um Unsicherheiten in der Planung zu begegnen, müssen wir bereit sein, die Risiken zu diskutieren.»

Braucht es dann einen ganz ­anderen Planungsansatz?

Ja, meiner Meinung nach schon. Vor allem einer Frage schenken wir heute zu wenig Bedeutung: Wie bewerten wir die Sicherheit gegenüber der Flexibilität im Bau und Betrieb?

Beispiel: Eine Anlage wird auf 30 Jahre ausgelegt. Die Frage ist nun, dimensioniert man basierend auf einer Prognose einer Ziel­grösse in 30 Jahren? Mit allen Unsicherheiten? Oder dimensioniert man zunächst nur auf die nächsten 10 Jahre, deren Entwicklung man relativ gut vorhersagen kann. Und «investiert» in Freiräume, in denen man später erweitern oder anpassen kann.

Methodisch liesse sich ein solcher Entscheid beispielsweise mit einer Realoptionsanalyse treffen. Sie berücksichtigt, dass sich während der Betriebsdauer einer Investition die Bedürfnisse verändern können und bewertet die Zusatzinvestitionen, um darauf reagieren zu können. In Kombination mit der Eintrittswahrscheinlichkeit jeder dieser Optionen lässt sich der Investition ein Wert zuweisen.

Ich möchte anregen, die Flexibilität als ein zentrales Bewertungskriterium mit in die Planung aufzunehmen. Und zwar nicht nur qualitativ, sondern auch quantitativ. Dass man Szenarien beschreibt, die sich quantifizieren lassen und die damit letztlich eine ­Bandbreite vorgeben – eine Bandbreite innerhalb derer der Bauherr entscheiden kann, wieviel er ­bereit ist, in die Flexibilität zu investieren. Diese Betrachtung gibt es heute kaum. Aber das erfordert ein Umdenken.

«Entscheidungsträger müssen sich von der Idee lösen, heute eine Kläranlage zu bauen und dann 30 Jahre Ruhe zu haben.»

Will man die Auswirkungen von Unsicherheiten eingrenzen, dann muss man sehr viel enger, hochfrequenter planen und damit sicher häufiger als bislang Investitionsentscheide treffen. Wenn man «30 Jahre Ruhe» will, dann führt das dazu, dass man Anlagen völlig überdimensioniert. Das ist heutzutage einfach falsch.

Richtig wäre?

Richtig in diesem Kontext wäre, dass Entscheidungsträger zukünftig mehr «das Weiterdenken» in der Planung einfordern und selbstverständlich dafür zu zahlen bereit sind. Damit will ich sagen, dass sorgfältig durchdachte Szenarien und eine darauf aufgebaute Planung etwas wert sind. Dies impliziert jedoch, dass Planung und die vom Planer zu erbringenden Leistungen sehr viel sorgfältiger als heute üblich ausgeschrieben werden müssen.

Zusammengefasst: Wohin geht die Reise? Oder: Wohin sollte sie gehen?

Wir werden vorhandene Strukturen aufbrechen müssen. Siedlungsentwässerung der Zukunft kann nicht einfach heissen: Die Massnahmen des generellen Entwässerungsplans sind umgesetzt – erledigt! Wir müssen Diskussionen führen, interdisziplinär, frühzeitig.

Es sind viele Themen und Ansatzpunkte, bei denen wir eingreifen können – und sollen. Noch tun wir uns schwer damit. Umso mehr lohnt es sich, auf das zu fokussieren, was bereits geschieht. Es gibt immer einen kleinen Prozentsatz einflussreicher Betreiber, die durchaus Willens sind, «den nächsten Schritt» zu gehen. Das sind die Vorreiter, die sehr viel bewegen können. Die auch erkennen, welche Möglichkeiten entstehen. Die den Mut haben, neue Ansätze zu testen. Beispielsweise, die Kanalisation und Kläranlage als integrales Gesamtsystem zu betrachten und sie entsprechend integriert zu planen und zu bewirtschaften. Betreiber, die aufzeigen, dass es besser geht als bisher.

Diese Leuchttürme sind mein wichtigstes Argument: Schaut her, es funktioniert bereits! Es ist gar kein so grosser Aufwand! Und man gewinnt etwas daraus! Diese Erfolgsgeschichten sind ganz zentral für die Veränderung.

Herr Prof. Dr. Maurer, herzlichen Dank für das Gespräch.

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