transfer Ausgabe 01 | 2014

Verteilnetze der Zukunft

Neue Wege für die Schweizer Energieversorgung

Unter dem Titel ‹Energiewende› werden alternative Energieformen zur Erzeugung von Strom propagiert. Übersehen wird dabei gerne, dass ein Umbruch mehr bedeutet als nur ein Ausschalten von Atomkraftwerken und Einschalten von Photovoltaik- oder Windkraftwerken. Es hat auch Auswirkungen auf die Struktur und vor allem den Betrieb der Übertragungsnetze. In unserem Experteninterview spricht Prof. Dr. Göran Andersson über die Zukunft der Verteilnetze in der Schweiz und erklärt, weshalb die Netzführung, Regelung und Steuerbarkeit dabei zu den grössten Herausforderungen zählen.

Prof. Dr. Göran Andersson ist Leiter des Instituts für elektrische Energieübertragung und Hochspannungstechnik an der ETH und beschäftigt sich unter anderem mit der Entwicklung und Regelung von Energiesystemen.

Herr Prof. Andersson, in welche Richtung werden sich Ihrer Ansicht nach die Verteilnetze entwickeln müssen?

Der Trend ist, dass mehr und mehr Kleinkraftwerke in die Netze integriert werden. In der Schweiz werden dies vor allem Photovoltaik-Kraftwerke sein; für die wirtschaftliche Nutzung der Windkraft, für Anlagen mit grossen Turbinen fehlt schlicht der Platz. An der eigentlichen Verteilinfrastruktur, sprich Kabel, Transformatoren, etc., werden dafür keine grossen Anpassungen nötig sein. Wesentliche Veränderungen wird es allerdings bei den Leitsystemen geben, denn die Netzführung muss ganz anderen Regeln folgen.

Heute werden Verteilnetze auf Basis von im Grunde genauen Lastprognosen geplant, versehen mit einer Sicherheitsmarge – und dann laufen sie ohne weiteren Anpassungsbedarf. Spannung und Frequenz werden geregelt – die Algorithmen hierfür sind perfektioniert. Im angelsächsischen Raum gibt es dafür den passenden Ausdruck «design and forget». Dieses Vorgehen wird sich verändern: Mit der Einspeisung aus der Photovoltaik und schwankenden Lasten muss man andere Wege finden. Das sehe ich als die grosse Herausforderung der Zukunft, vor allem, da dies möglichst kostenneutral gelingen muss.

Alle möglichen Lastszenarien im Netzdesign von vornherein zu berücksichtigen, wird einfach zu teuer. Das heisst also, wir werden im Netz viel mehr Möglichkeiten zur Regelung als heute vorsehen müssen. Um zu wissen, was passiert, muss man wiederum das Netz an entsprechend vielen Stellen beobachten und dort Messungen durchführen. Beobachten und Regeln, das werden die wesentlichen Änderungen an unserer Infrastruktur des Netzes sein, das damit zum ‹Smart Grid› wird. Dafür sind zudem intelligente Algorithmen notwendig, um auf Basis der gewonnenen Messwerte ständig den Zustand des Netzes, d. h. Verbrauch, Einspeisung, Spannung, zu schätzen.

Welche geografische Ausdehnung hat denn ein Smart Grid?

Ich denke, dass dies schon die Grösse einer Kleinstadt sein wird. Theoretisch lässt sich alles messen, in beliebig kleinen Netzzellen. Aber das hat seine Grenzen – der Aufwand muss ja in einem vernünftigen Rahmen bleiben. Die Geräte zur Messung kosten Geld, es wird eine entsprechende Kommunikationsinfrastruktur benötigt, die Geräte müssen gewartet und kalibriert werden.

Wie kann man sich das dann vorstellen?

Nun, heute werden Netze aufgrund einer Lastprognose erstellt, und die Grosskraftwerke können im Grunde mit jeder Form der angefragten Last umgehen. Wenn es einen Bedarf im Netz gibt, kann dieser gedeckt werden. Für die zukünftigen Netze müssen wir ein gutes Lastmanagement entwickeln: Gibt es mehr Strom in Netz, lässt sich mehr verbrauchen, gibt es weniger, dann muss überlegt werden, welche Lasten man verschieben kann. Thermische Lasten, wie Kühlschränke, Klimaanlagen etc., die heute immer auf eine konstante Zieltemperatur hin regeln, haben ein grosses Regelpotential, beispielsweise indem man zulässt, dass die Solltemperatur um ein Grad abweichen darf. In den USA gibt es solche Regelungen bereits: Im Sommer stellen Klimaanlagen die Hauptlast dar. Dann wird der Sollwert nur um ein Grad verschoben – und viel erreicht. Darüber wäre auch der Bezugspreis für den Strom steuerbar: Wer dem Netzbetreiber erlaubt, die Klimaanlage in einem weiten Bereich zu regeln und damit zum Lastausgleich zu nutzen, bezahlt weniger.

«Wir werden zukünftig in unseren Verteilnetzen viel mehr Möglichkeiten zur Regelung als heute vorsehen müssen.»

Welche Rolle spielen Energiespeicher im Netz?

Nicht alles kann mit der Regelung über thermische Lasten erreicht werden. Diese dient nur zum kurzfristigen Ausgleich, über eine halbe Stunde oder eine Stunde. Muss man längere Zeiten überbrücken, wie beispielsweise in der Nacht, wenn der Strom aus der Photovoltaik fehlt, werden dezidierte Speicher benötigt – Batterien im Netz, Pumpspeicherkraftwerke.

Wo stehen wir konkret, was den Netzausbau betrifft?

Die Verteilnetze in der Schweiz sind generell gut ausgebaut. Allerdings verändert das Verschieben von Lasten auch die Rahmenbedingungen. Ein Beispiel: Bei einer grossflächigen Nutzung von Elektroautos haben wir auch einen grossen Bedarf an Strom in der Nacht, wenn alle Autos aufgeladen werden. Das bedeutet dann aber auch, dass beispielsweise die Transformatoren nachts nicht mehr wie bisher auskühlen können – was wiederum heisst, dass ihre Lebensdauer, die wesentlich von der Durchschnittstemperatur bestimmt wird, sinken wird. Oder betrachten wir einen abgelegenen Bauernhof, der an einer Stichleitung hängt, und nun Strom aus Photovoltaik erzeugt und einspeisen will. Am Mittag, wenn die Sonne scheint, wird dort die Spannung zu hoch, weil das Netz eigentlich für den umgekehrten Lastfluss ausgelegt ist. Die Konsequenz ist, dass man das Kraftwerk vom Netz nehmen muss.

Was gilt es Ihrer Ansicht nach regulatorisch zu lösen?

Sicher wird es neue Vereinbarungen geben müssen, etwa was die Regelung der thermischen Lasten durch den Netzbetreiber betrifft. Heute sind wir gewohnt, dass wir jederzeit Strom in praktisch beliebiger Menge beziehen können – da wird ein Umdenken notwendig sein. Es müssen verschiedene Lastprioritäten definiert werden, was bedeutet, dass man bei Strommangel Verschiedenes nicht mehr in Betrieb nehmen kann. Das ist so ähnlich wie die heute schon durch die Rundsteuerung gesperrte Waschmaschine um die Mittagszeit, aber wahrscheinlich einfach weitreichender vernetzt. Ein Beispiel wäre, dass ich mehr Strom nutzen kann, wenn mein Nachbar in Ferien ist – und umgekehrt. Wie das umgesetzt werden kann, ist allerdings noch offen. Ich gehe davon aus, dass dies auf Basis von Durchschnittswerten definierter Verbrauchergruppen gelingen kann. Denkbar ist auch, dass man über Preismodelle den Bezug von Strom regeln wird: Benötige ich mehr als vereinbart, bezahle ich mehr, benötige ich weniger, beziehe ich den Strom günstiger. Das gibt dem Netzbetreiber einen entsprechenden Spielraum.

Gelöst werden müssen auch meteorologische Sondersituationen, etwa drei Wochen dauernder Hochnebel in der Schweiz und gleichzeitige Windflaute in Deutschland. Natürlich ist die Wahrscheinlichkeit dieses Eintreffens sehr, sehr klein. Aber dann wird man den Strom tatsächlich rationieren müssen. Wir haben eine Studie gemacht, in der wir die Schweiz als eine Insel betrachten – also das 2050-Szenario, mit Wasserkraft, einigen Gaskraftwerken und Photovoltaik. Ganz grundsätzlich wird sich die Schweiz, mit diesen Annahmen, etwa eine Woche autonom versorgen können. Und dann muss man etwas tun. Das wird dann nur mit Verzicht lösbar sein.

Wie schätzen Sie die Bereitschaft für den Verzicht ein?

Ich denke nicht, dass die Bereitschaft derzeit sehr hoch ist. Ursache sind meiner Meinung nach vor allem zwei Aspekte: Zum einen sind wir seit Jahrzehnten gewöhnt, dass Energie einfach immer da ist. Zum anderen haben wir aus der Verbrennung fossiler Energieträger, Kohle, Öl, das Optimum herausgeholt, sie besitzen einfach eine unglaubliche Energiedichte. Natürlich entstehen aus der Verbrennung CO2 und andere Emissionen, die wir nicht wollen. Aber energetisch gibt es nichts Besseres. Und alles was wir neu entwickeln, vergleichen wir immer damit. Da werden wir umdenken müssen. Nehmen wir ein Kraftfahrzeug: Die im Kraftstofftank gespeicherte Energiemenge ist einfach riesig. Wenn man ein Auto tankt, dann fliesst eine Leistung von etwa 20 Megawatt durch den Zapfschlauch. Das ist unglaublich. Etwas nur annähernd Vergleichbares bei der Elektromobilität zu lösen – so weit sind wir einfach nicht.

Zusammenfassend – wohin geht also die Reise für Netzbetreiber?

Im Grunde gibt es noch kein Geschäftsmodell. Man kann heute mit Smart Metering etc. eigentlich kein Geld verdienen, die Investitionen gehen nicht auf. Zwar führen im Moment alle grösseren Netzbetreiber dazu ihre Untersuchungen durch. Aber diese haben vor allem das Ziel, Erkenntnisse zu gewinnen, wie und wo man den Netzausbau verschieben kann. Wenn dies gelingt, weil man das Netz besser kennt, spart man viel Geld – und gewinnt Zeit. Denn das Problem ist eigentlich die Komplexität der Infrastruktur selbst. In der Energietechnik und der Netzinfrastruktur hat man sehr lange Lebenszyklen, bis hin zu vielen Jahrzehnten. Bei der Informationstechnologie beträgt ein Lebenszyklus etwa ein Jahr. In zwei, drei Jahren ist eine Entwicklung überholt, alles besser und günstiger zu haben. Betrachten wir nur die Wartung: In wenigen Jahren gibt es jeweils keine Ersatzteile mehr. Die Frage ist, wie sich diese beiden Welten verbinden lassen.

Ich denke, dass dazu Standardisierung eine wichtige Voraussetzung ist. Im Hochspannungsbereich ist diese schon weit vorangeschritten, im Bereich der Informationstechnologie besteht Nachholbedarf. Zwar sind Übertragungsprotokolle bereits vereinheitlicht, bei der Hardware – den Messgeräten an der Schnittstelle zwischen Hochspannung und IT – ist man jedoch noch nicht soweit.

Zusammenfassend: In der Zukunft wird die Netzführung das Entscheidende werden. Natürlich gibt es auch immer einen Erneuerungsbedarf in der eigentlichen Verteilinfrastruktur, einen Lastzuwachs, sodass die Netze verstärkt werden müssen. Die Herausforderungen werden jedoch die Regelung, die höhere Steuerbarkeit, die Netzführungssysteme sein. Also werden mehr Daten aus dem Netz benötigt. Dieses Mehr an Informationen muss aber auch intelligent genutzt werden. Die Verteilnetzbetreiber werden dazu auch neue Kompetenzen brauchen, Mitarbeitende, die viel von IT und Regelungstechnik verstehen.

Herzlichen Dank für das Gespräch.