transfer Ausgabe 02 | 2021

Transformation Zukunft

Auf dem Weg zum digitalen Wasserkraftwerk

In 15 Monaten zum digitalen Wasserkraftwerk? So schnell geht es dann doch nicht. Axpo hat jedoch in einer solchen Zeitspanne zwischen April 2019 und Juli 2020 in ihrem Kraftwerk Sarganserland die digitale Zukunft an 20 konkreten Anwendungsfällen getestet. Emil Bieri, Head Digital Transformation Hydro bei Axpo, erzählt im Gespräch von der Idee, den Zielen, von Stolpersteinen und dem Ergebnis der Pilotphase. 

«Wir müssen verstehen, wie unsere Mitarbeitenden im Betrieb auf die Daten schauen, weshalb sie darauf schauen, wohin sie schauen, und was genau sie dabei herausfinden wollen.»
 

Emil Bieri, Head Digital Transformation Hydro, Axpo Power AG

Herr Bieri, welche Inhalte und Ziele hatte ihr Pilotprojekt?

Im Pilotprojekt wollten wir herausfinden, wie Betrieb und Instandhaltung einer Wasserkraftwerksanlage dank digitaler Technologien effizienter gestaltet werden können. Dabei war uns wichtig, alle Aspekte und alle Prozesse im Betrieb anzuschauen und diese in den Digitalisierungsprozess zu inkludieren – ein 360°-Ansatz. Zunächst bestand die Aufgabe darin, herauszufinden, was genau innerhalb der Axpo-Gruppe benötigt wird. In einem zweiten Schritt wollen wir diese Erfahrungen in neue Services verpacken, die wir auch Dritten anbieten können.

Wie sind Sie dabei vorgegangen?

Mit einem kleinen Digitalisierungsprojekt hatten wir bereits Anfang 2018 Gehversuche unternommen, waren damit jedoch nicht erfolgreich. Wir hatten einen falschen Ansatz gewählt: Wir starteten mit einem einzigen Partner und haben uns angeschaut, was dessen Ideen uns bringen können. Aber dabei nicht ausreichend darauf geachtet, was tatsächlich benötigt wird. Mit dieser Erfahrung im Rucksack überlegten wir deshalb Ende 2018 in einer vorgelagerten viermonatigen Konzeptphase gemeinsam mit der Leitung des KW Sarganserland, welche Inhalte das Pilotprojekt umfassen muss, damit der von uns anvisierte Ansatz aus Sicht des Kraftwerkes gelingen kann. Zusammen mit dem Team vor Ort haben wir versucht herauszufinden, wo der Schuh in der täglichen Arbeit drückt. Und dann geschaut, wie wir unsere Leute dabei so umfassend wie möglich, eben mit der 360°-Rundumschau, mit digitalen Services in der konkreten Arbeitssituation unterstützen können. So sind 20 ‹Use Cases› entstanden, die wir im Projekt getestet haben. 

Können Sie diese Use Cases kurz beschreiben?

Unter dem Themendach ‹Workforce› haben wir beispielsweise untersucht, wie man die Arbeit der Mannschaft erleichtern und zunehmend papierlos gestalten könnte, wie sich Störungen leichter identifizieren und auch aus der Ferne untersuchen lassen, und ebenso, wie man technische Dokumentationen online verfügbar machen könnte. In ‹Robotics› überprüften wir Methoden zur automatisierten Bildbeschaffung, um schwer erreichbare Anlagenteile beurteilen zu können, beispielsweise mit Drohnen, Robotern oder Booten. In ‹Analytics› wollten wir erfahren, wie sich die mannigfaltigen, bereits in der Leittechnik vorhandenen Messdaten und jene, welche das Personal kontinuierlich erstellt, zusammenführen und weitreichender nutzen liessen. ‹Services› war dazu gedacht, bereits im Markt verfügbare Dienste zu testen, und zu prüfen, wie man diese in unsere eigene IT-Landschaft einbetten kann.

Last but not least ist das Themenfeld ‹Infrastructure› zu erwähnen, welches sich rasch als eine zentrale Herausforderung manifestierte: Bevor man über digitale Services nachdenken kann, muss die Anlage mit einem flächendeckenden Daten- und Sprachkommunikationsnetz versehen werden und alle Mitarbeitenden ausnahmslos mit Smartphone oder Tablet als Teil des modernen Werkzeugkastens ausgestattet sein. Das haben wir deshalb praktisch als Erstes entschieden: Wo gearbeitet wird, da besteht eine Online-Datenverbindung.

Wie standen die Mitarbeitenden im Kraftwerk dazu?

Weil wir das Team vor Ort schon sehr früh in unsere Überlegungen einbezogen hatten, durften wir eine grosse Offenheit dem Projekt gegenüber erfahren. Natürlich trafen wir auch auf Skepsis und viele Fragen. Da gab es die Sorge um den Arbeitsplatz. Denn etwas effizienter zu machen bedeutet ja auch, etwas mit weniger Manpower tun zu können. Wir wollten mit diesem Projekt aber vor allem die Chancen aufzeigen, uns für die Zukunft der Wasserkraft besser aufzustellen und so den Mitarbeitenden neue Perspektiven zu bieten. Beispielsweise, indem wir unsere Erfahrungen als Dienstleistung etablieren, welche man genauso Dritten anbieten kann.

Kritisch hinterfragt wurde natürlich der Daten- und Persönlichkeitsschutz. Da gab es spannende Diskussionen. Zum Beispiel beim Thema Alleinarbeiterunterstützung: Die lebt ja davon, dass das Smartphone weiss, wo der Einzelne ist, ob er sich bewegt. Da kann man zwar versichern, dass das nur dazu diene, einen Notfall zu erkennen und Hilfe zu organisieren. Letztlich lässt sich das Vertrauen nur aufbauen, indem man diesen Worten auch Taten folgen lässt. Man darf dann nicht beim erstbesten Vorfall, wo irgendetwas verdächtig erscheint, über diesen Weg Informationen besorgen. Solche Fälle muss man weiterhin so behandeln, wie man das immer gemacht hat. Und man muss klar definieren, wann man auf diese Daten zugreifen kann, wer das darf, und wie dabei vorgegangen werden muss.

All das hat gedauert. Aber ich glaube sagen zu können, dass die meisten inzwischen zu Botschaftern der neuen Arbeitsweise geworden sind, und ungeduldig darauf warten, die neuen Werkzeuge zu erhalten.

Wo gab es Stolpersteine, was überraschte?

Alle 20 Use Cases wurden mit einem Proof of Concept abgeschlossen. Dazu gehörten die Wirtschaftlichkeitsrechnungen und vor allem die Aussagen zur Akzeptanz bei den Mitarbeitenden. Das Projekt war schliesslich ein Live-Test im betrieblichen Alltag – und keine Papierübung. Alles, was wir ausprobierten, war schliesslich alternativlos. Denn wir fanden rasch heraus, dass ein solches Vorhaben nicht ‹teilweise› gelingen kann, also zum Beispiel nur mit einem Teil der Mitarbeitenden oder auf einem Teil der Anlagen die neuen Tools zu testen. Die eine Maschinengruppe mit alter, eine andere mit neuer Arbeitsweise zu betreiben störte den Ablauf massiv und war völlig ineffizient. Also: alles oder nichts.

Die Befragung der Mitarbeitenden am Projektende lieferte ein durchwegs positives, aber auch ein kritisches Bild: Alle sahen den erfolgversprechenden Ansatz und den Nutzen daraus. Noch gilt es allerdings, viele Fragen zu beantworten und Dinge zu verbessern, um von der Testanwendung zu einem ausgereiften Produktiv-Tool zu kommen. Und dazu haben wir sehr viele wertvolle Hinweise erhalten. Insgesamt war dieses Vorgehen für alle Beteiligten völlig neu, denn bislang wurden Veränderungen und Neuerungen immer ‹ausgereift› auf der Anlage eingeführt. Deshalb war die Botschaft klar: «Super. Aber macht das bitte fertig, bevor ihr es wieder auf die Anlage bringt.»

Völlig neu war dieses Vorgehen auch für die gesamte Axpo-Organisation. Die Divisionsleitung hat uns ein Budget von 3 Mio. Franken zur Verfügung gestellt, ohne dass wir im Vorfeld genau sagen konnten, wo und wie sich unsere Ideen umsetzen lassen und welche Ergebnisse wir damit erreichen werden. 

Eine schöne Erfahrung war, welch positiven Einfluss das Projekt auf das Teamgefüge im Kraftwerk hatte: Die älteren Mitarbeitenden, die zwar jede Schraube im Werk kennen, jedoch mit Smartphone und Tablet ihre Mühe hatten, lernten von den Jüngeren den Umgang damit. Und die Jüngeren wiederum profitieren von der Werks-Erfahrung der Älteren. So leistet jeder seinen Beitrag, gemeinsam das umfangreiche, in unseren Werken vorhandene Wissen ins digitale Zeitalter zu überführen.

Wie geht es weiter?

Aus den 20 Use Cases sind schliesslich 13 Services entstanden, die wir unter nunmehr drei Themen – ‹Analytics›, ‹Workforce› und ‹Infrastruktur› – zusammengefasst haben. Hintergrund ist, dass wir die ursprünglichen Anwendungsfälle zum Teil anders zuordneten, weil wir herausfanden, dass manches nur in Kombination Sinn ergibt. Diese Services entwickeln wir aktuell für den Rollout im gesamten Axpo-Kraftwerkspark fertig, und erstellen daraus ein umfassendes Portfolio für die digitale Transformation von Wasserkraftwerken Dritter. 

Die ‹Robotics› Use Cases haben wir vorerst ausgeklammert, denn es fehlen uns noch Grundlagen, um solche Anwendungen produktiv machen zu können. Wir wissen noch zu wenig über die Möglichkeiten, die sich uns damit bieten könnten. Deshalb haben wir ein neues Projekt gestartet, öffnen damit bis Ende 2022 nochmals den Fächer, können Systeme evaluieren und deren mögliche Verwendung für uns testen. Dabei arbeiten wir eng mit Kolleginnen und Kollegen aus anderen Werken zusammen, beispielsweise mit der österreichischen Verbund Hydro Power GmbH, die seit vielen Jahren in einem steirischen Kraftwerk Möglichkeiten zur Digitalisierung erprobt (siehe Beitrag in transfer 02/2018, ‹Das Kraftwerk der Zukunft›).

Wie sehen die neuen Services konkret aus?

Ein wichtiges Element bei ‹Analytics› ist die Hydro Cloud. Wir haben eine sichere Schnittstelle in die Kraftwerkssteuerung gebaut und machen so die vorhandenen Daten 1:1 und in voller Auflösung auf einem Cloud-Server verfügbar. Über ein Web-Frontend kann man mit der entsprechenden Berechtigung jederzeit auf die hochaufgelösten Daten der Leittechnik zugreifen. Zusammengeführt mit weiteren Daten der Business Intelligence nutzen wir dies beispielsweise für Online-Analysen und den Aufbau interaktiver Dashboards, was die Zusammenarbeit zwischen den einzelnen Bereichen der Organisation vereinfacht und wichtige Entscheidungen stützen hilft. 

Zum anderen ist dies auch die Basis für die Entwicklung von Analyse-Applikationen. Ein Ansatz ist es, unser Betriebspersonal mit Langzeit-Trendanalysen zu entlasten, die helfen, kritische Betriebszustände zu erkennen und selbstständig Alarme auslösen können. Damit das gelingt, müssen wir versuchen, das Know-how der Betriebsmannschaft in den Werken aufzunehmen und schliesslich in Software-Bausteine zu übertragen. Wir müssen verstehen, wie sie auf die Daten schauen, weshalb sie darauf schauen, wohin sie schauen, und was genau sie dabei herausfinden wollen. 

Mittelfristig streben wir an, Applikationen für die vorausschauende Wartung basierend auf historischen Daten aufzubauen. Dies könnte es ermöglichen, die derzeit strikt zeitbasierten Wartungsprozesse abzulösen und sie hin zu einem nutzungsbasierten Intervall für Service und Erneuerung von Anlagen zu entwickeln. Das ist unser grosses Ziel. Nur: Vergleichbares existiert bis heute in der Hydro-Welt nicht. In dieser gibt es nicht wie in anderen Bereichen Hunderte identischer Maschinen, aus deren Betrieb man Rückschlüsse ziehen und sie vergleichen kann. In den allermeisten Fällen handelt es sich um Einzelanfertigungen, die sich aus ihrer geografischen Lage, dem Einzugsgebiet und der Fallhöhe ergeben. Das heisst, das Übertragen von Erkenntnissen von einer Anlage auf die andere ist schwierig und geht letztlich nur über einen Physik-basierten Ansatz, um ausreichend genaue Ergebnisse zu erhalten. Dazu braucht es neben intelligenten IT-Systemen mit modernen Analysemethoden vor allem Domain-Know-How. 

Wie werden sich die neuen Services im Alltag zeigen?

Die Digitalisierung macht es möglich, dass die Zusammenarbeit zwischen den Mitarbeitenden im Feld, und jenen, die im Hintergrund planen und vorbereiten, von einem vollständig durchgängigen System unterstützt wird. Wo wir heute noch mit ausgedrucktem Arbeitsauftrag und dem Ordner unter dem Arm in die Anlage zum Arbeiten gehen, werden zukünftig Smartphone und Tablet das Papier ablösen. Das setzt zum Beispiel voraus, dass wir die elektronische Anlagen-Dokumentation so weiterentwickeln, dass sie stets à jour ist und zum ‹Single Point of Truth› wird: Sie muss alle Informationen aufnehmen können, Rotkorrekturen ebenso wie die persönlichen Notizen der Fachkräfte. Um dies zu erreichen, werden automatisch Meta-Daten generiert, sodass man diese später intelligent nach Inhalten durchsuchen kann. Viel versprechen wir uns auch von der Alleinarbeiterunterstützung, mit der bei einem erkannten Notfall alle Kollegen in der Nähe alarmiert werden und so ein schnelleres Handeln ermöglicht wird. 

Und ja, Smartphone und Tablet werden zum unverzichtbaren ‹Werkzeug› in der persönlichen Toolbox eines jeden Mitarbeiters.

Herr Bieri, herzlichen Dank für das Gespräch.

Digitaler Kompass

Mit dem ‹Digitalen Kompass› unterstützt Axpo andere Kraftwerksbetreiber dabei, den Ist-Zustand ihrer Organisation zu evaluieren und zeigt Handlungsmöglichkeiten für die digitale Transformation der Kraftwerke auf. Basierend auf den Erkenntnissen aus dem Pilotprojekt ‹Hydro 4.0› im Sarganserland wird das Nutzenpotenzial der neuen digitalen Arbeitsweise spezifisch für die untersuchten Kraftwerke abgeschätzt. Mit dem digitalen Kompass kann jeder Wasserkraftbetreiber eine Standortbestimmung vornehmen und seinen Fortschritt auf dem Weg in die digitale Zukunft faktenbasiert steuern.

Bildnachweis: iStock/AscentXmedia, iStock/Akrain (Titelbild), Axpo Power AG