transfer Ausgabe 02 | 2017

Solide Basis

Warum neue Netze mehr als nur neue Geräte benötigen

Wirtschaftliche und technologische Entwicklungen, aber auch politische Entscheide in der Schweiz und Europa werden in den kommenden Jahren die Energiemärkte verändern. Energieversorger werden sich in diesem Zusammenhang mit für sie gänzlich neuen Systemen und Technologien auseinandersetzen müssen. Aber das ist längst nicht alles. Wir haben mit Andreas Sollberger, Gründer und Inhaber der Sollberger Ingenieure in Aarberg im Kanton Bern gesprochen, woran EVU jetzt denken sollten.

Herr Sollberger, revidiertes Energiegesetz, Strommarktliberalisierung, Eigenverbrauchsgesellschaft – um nur drei Schlagworte zu nennen – die Branche ist im Umbruch. Wie können sich Elektrizitätsversorger dafür fit machen?

Das ist im Moment sicher eine spannende Zeit, mit vielleicht mancher Unsicherheit. Aber ich denke, man muss dem offen gegenübertreten, denn das eröffnet mitunter neue Chancen. Ich habe auch nicht das Gefühl, dass das diskutierte Neue sehr kompliziert werden wird, aber man muss den Veränderungen definitiv früh Beachtung schenken – und die kommenden Projekte möglichst umsichtig planen. Sonst könnte das leicht sehr teuer werden.

«Erfolgreiche Veränderung setzt eine stabile Basis voraus.»

Deshalb ist aus meiner Sicht das A und O einer zukunftsgerichteten Veränderung die Schaffung einer soliden (Infra-)Struktur für die Betriebsführung. Das ist natürlich ein weiter Begriff. Aber der Ausstieg aus der Atomenergie, die zunehmende Stromerzeugung aus erneuerbaren Energien wie PV durch Private im Netz, der Aufbau von Smart Metering / Smart Grid als eines der Instrumente für das Ganze werden die Grundsätze der Betriebsführung beeinflussen. Das wird genauso ausstrahlen auf die Kunden und die Kundenstrukturen ganz generell. Ich bin der Meinung: Die neue Welt in einem liberalisierten Markt wird viel mehr auf die Kunden ausgerichtet sein. EVU müssen Produkte anbieten, mit denen Kundenbindung gelingt, die passen für die Region. Dort müssen sie sich in gleichem Masse bewegen, wie sich andere Märkte bewegen. Und das ist sicher neu.

Wo fängt das an?

Das heutige Geschäft ist wichtig, das ist unbestritten. Aber das Geld, das ein Betreiber heute in die Hand nimmt, das muss er so investieren, dass er darauf aufbauen kann. Und nicht nur isoliert das jetzige Problem lösen. Das ist eine wichtige Botschaft.

Und ja, ich weiss, mitunter ist das leicht gesagt. Absorbiert im Tagesgeschäft geht das unter. Die Anforderungen an die EVU sind gestiegen, das Aufgabenspektrum der Betriebsleiter ist breiter geworden. Vor allem sind das zunehmend Anforderungen an die Prozesse, gar nicht an die Technik. Und den ganz kleinen EVU fällt die eigenständige Bewältigung dieser Aufgaben sicher schwerer. Aber der Markt bewegt sich. Und das ist ein Punkt, den man nicht vernachlässigen darf. Vielleicht müssen sie sich dazu auch einfach mit anderen EVU zusammentun, Erfahrungen austauschen, oder sogar kooperieren.

Schaffung einer soliden Basis – können sie das konkretisieren?

An erster Stelle steht dabei für mich der Aufbau eines sicheren Kommunikationsnetzes, welches zukünftigen Anforderungen gerecht werden kann. Damit gemeint ist natürlich einerseits das technische Kommunikationsnetz, die logische Strukturierung, die ‹Verkabelung›, aber gleichermassen dessen Überwachung und Verwaltung mit einem funktionierenden Netzwerkmanagement. Kurz: die sichere Plattform, auf der bestehende Systeme und Geräte standardisiert eingebunden werden. So gelingen in der Folge Ausbauten rasch und kostengünstig. Deshalb lohnt sich das eben zu tun, bevor es ‹nicht mehr anders geht›. Sonst macht man es wieder nur projektbezogen – und da fehlt der Blick fürs Ganze. Man nimmt am Ende alles mehrfach in die Hand.

Das andere ist die Entwicklung eines aktuellen Schutzkonzepts für das Mittelspannungsnetz. Letztlich bietet dies die Grundlage für den sicheren und kostengünstigen Netzbetrieb und später für gezielte Ausbauten.

Und drittens: Nicht zu vergessen ist die standardisierte Anlagendokumentation. Darin besteht bei den Allermeisten ein grosser Nachholbedarf. Wissen ist in einzelnen Köpfen gespeichert, oft verteilt über die ganze Organisation, aber wenig dokumentiert. Nicht nur, dass man dieselben Dinge unterschiedlich, und damit mehrmals tut, es gehen auch Zusammenhänge verloren. Und ohne diese ‹Standards› gelingt ein effizientes Engineering nicht.

Stichwort IT-Security: Welche Herausforderungen bestehen da?

Das ist ein grosses Thema – und ein klassischer Fall, wo man sagt, das muss von Anfang an richtig gemacht werden. Dann kann das Netz wachsen. Sonst kann es mitunter wieder sehr aufwändig werden. Dabei geht es um den Schutz gegenüber unbefugten Zugriffen, aber ebenso um die Verfügbarkeit. Und richtig verstanden ist beides skalierbar. Sprich: Ich kann bei Bedarf ausbauen. Dazu können wir uns vieler Instrumente aus der Industrie bedienen. Das müssen wir nicht neu erfinden.

Nicht erst seit den jüngsten Cyberattacken besteht seitens der EVU da zumeist wirklich Bereitschaft, etwas zu tun. Manchmal helfen plakative Argumente, in welche Position wohl ein Betreiber in der Öffentlichkeit gedrängt würde, wenn bekannt wird, dass sich ein Unberechtigter in seinem Netz bewegt hat. Und vielleicht einen Gemeindeteil stromlos geschaltet hat. Oder an einem heissen Tag ein Reservoir entleert und so die Wasserversorgung lahmgelegt hat. Der monetäre Schaden ist vielleicht gering, der immaterielle allerdings gross, wenn er sich vorwerfen lassen muss, nicht mal das Minimum zur Sicherung seines Netzes getan zu haben.

Mit der Zeit werden neue Anforderungen an das Netz und die Netzführung gestellt, es entstehen bei den EVU neue ‹Produkte›, vielleicht ganz neue Geschäftsmodelle. Worauf gilt es hier zu achten?

In einem liberalisierten Markt mit freiem Wettbewerb gilt doch immer, dass interne wie externe Geschäftsprozesse optimiert werden müssen, Durchlaufzeiten reduziert und mit minimalen Kosten ein maximaler Kundennutzen erzielt wird. Der Kunde des EVU erwartet genau wie anderswo auch eine auf ihn zugeschnittene Dienstleistung, einen Ansprechpartner, eine Abrechnung.

Wichtig ist deshalb vor allem, die Systeme und Anwendungen auf einer einheitlichen Datenbasis aufzubauen. Das Einrichten einer Integrationsebene der verschiedenen Dienste, wie beispielsweise ein ‹Enterprise Service Bus›, ermöglicht den Zugang zu den umfangreichen Daten. Diverse Anbieter und eine Vielzahl unterschiedlichster Anwendungen, dazu höchstwahrscheinlich von einer Vielzahl externer Anbieter, erhöhen natürlich die Komplexität ungemein. Damit wird ein professionelles Projektmanagement, um das als Ganzes aufzusetzen, unabdingbar.

Und damit sind wir wieder zurück beim Aufbau einer soliden Basis. Das wird in vielen EVU heute doch noch unterschätzt. Mit einem sauberen Konzept weiss man genau, wann und wie man bei einem späteren Ausbau agieren muss. Sonst nehme ich das dann nochmals und jedes Mal wieder in die Hand. Meistens wird immer noch das Material oder der Materialeinkauf optimiert, aber eigentlich sollte man das Engineering optimieren. Das ist das teure. Selbst ein hardwareintensives Projekt rechnet sich rasch, wenn ich dafür das Konzept durchhalten kann. Aber das ist letztlich vielleicht der Unterschied von heute zu den immer komplexeren Systemen der Zukunft.

Und was heisst dies auf das Netzleitsystem bezogen?

Dieses muss natürlich konzeptionell vorbereitet sein und die benötigten Funktionen für die neuen Aufgaben im Rahmen der (zukünftigen) Netzführung bereitstellen können. Heute führen die EVU den Betrieb auf der Mittelspannungsebene. Vergleichbare Aufgaben des Netzmanagements werden jedoch zunehmend in die tieferen Netzebenen vordringen, Stichwort: Smart Grid. Es wird also auch dort Netzführung brauchen, vielleicht nicht gleich überall, aber zumindest in wichtigen Netzsegmenten. Und dieses System muss massiv mehr Messwerte behandeln. Aber nicht nur das, es wird ungleich mehr Schnittstellen zu anderen Systemen haben als wir das heute kennen. Hier gilt ebenfalls: Die Systemlandschaft wird kompliziert und es ist gut, sich darüber frühzeitig im Klaren zu sein.

Und dazu gibt es einen nächsten, wichtigen Schritt: Viele EVU, die erste Pilotinstallationen mit neuen Diensten im Netz testen, betrachten diese noch isoliert. Da muss der Lieferant noch gar nicht beweisen, dass die übergreifende Kommunikation funktioniert. Die prozessualen Themen müssen bei einem Pilotversuch ebenfalls mit einfliessen. Es geht also darum, auf dem Weg unbedingt solche Erfahrungen zu sammeln.

Zusammengefasst: Was würden Sie einem EVU heute als wichtigsten Ratschlag mit auf den Weg geben?

Das ist vor allem eine Botschaft: Die neuen Technologien, wie Smart Metering, um nur die ‹prominenteste› zu nennen, bringen eine neue Komplexität ins Netz. Sie haben viele Berührungspunkte mit der Umgebung, mit anderen Systemen. Das ist keine Gerätebeschaffung, wie vielleicht ein Trafo. Da muss man sich bewusst sein, dass diese Investitionen vor allem prozessuale Konsequenzen haben.

«Die neuen Technologien kann man nicht einfach wie einen Trafo beschaffen.»

Natürlich gibt es daneben eine immer grössere Zahl von Schnittstellen zu den Umsystemen. Das ist technisch mehrheitlich gelöst, da gibt es entsprechende Normen – aber nicht nur das ist das Thema. Viel wichtiger ist, wie sich die aus den neuen Technologien ergebenden Anforderungen in das Geschäftsumfeld einbetten lassen. Wie geht das EVU damit um, inklusive der Frage, welche Leistung wird eventuell von Dritten im Auftrag erbracht. Und das muss wirklich wohlüberlegt sein, denn letztlich ist es der IT-Betrieb, der die Kosten treibt.

Und die zweite wichtige Empfehlung aus meiner Sicht ist, wie schon zuvor erwähnt, die Schaffung einer soliden Basis, auf der man aufbauen kann. Natürlich stellt sich die Frage, wann der richtige Zeitpunkt ist, den vorhandenen Unterbau konsequent zu bereinigen. Und nicht einfach situativ etwas dazuzubauen. Der Punkt ist ja meist, dass das Vorhandene funktioniert, aber einfach aufwändig ist – aufwändig in der Dokumentation, im Fehlerfall für den Pikettdienst, etc. Das ist in kleinen, überschaubaren EVU meist machbar, da gibt es erfahrene, langjährige Mitarbeiter, die wissen alles auswendig und kompensieren das Manko. Nur: Mit den neuen Technologien kann man so nicht mehr umgehen, da kann man nicht mehr alles selber machen. Und das birgt dann wirklich erhebliche Risiken, wenn man sich nicht konsequent damit auseinandergesetzt hat.

Herr Sollberger, herzlichen Dank für das Gespräch.