transfer Ausgabe 01 | 2019

‹Nessie› würde sich wundern

Kilometerlange Druckleitungen schlängeln sich durch den Ossiacher See

Wenn abwasserführende Leitungen quer durch einen See verlegt sind, dann stellt dies hohe Anforderungen an die Sicherheit. Der Wasserverband Ossiacher See in Kärnten (Österreich) verbindet unter Wasser neun Abwasserpumpwerke mit einer zentralen Kläranlage in Villach. Der Bau der Leitungen ist zwar deutlich günstiger als an Land, der Betrieb jedoch technisch höchst anspruchsvoll.

Als der Wasserverband Ossiacher See (WVO) 1964 gegründet wurde, war die Lage dramatisch: Fäkalabwässer wurden praktisch ungeklärt in den See geleitet und der See drohte zu kippen. «Unmittelbares Handeln war gefragt – und Ideen gesucht, wie man möglichst wirtschaftlich und vor allem schnell die rund um den See entstehenden Abwässer einer zentralen Kläranlage zuführen kann», erzählt Norbert Schwarz, Geschäftsführer des WVO. Als Lösung drängte sich eine Seedruckleitung auf: Damit lassen sich verglichen mit einer am Land verlegten Verrohrung zu geringen Kosten rasch grosse Distanzen überbrücken.

Sicherheitsaspekt 1: Dichtheit

Aufwändig sind hingegen der Betrieb und der Unterhalt: Die Dichtheit der Leitungen muss zu jedem Zeitpunkt garantiert sein, ein entstandenes Leck rasch identifiziert und abgedichtet werden können. «Das ist eine der grossen Herausforderungen», erläutert Norbert Schwarz, «denn man kann nicht einfach die Leitung aus dem Wasser heben. Mit grossen Kompressoren muss man dazu Luft einblasen, sodass die Leitung aufschwimmen kann. Je nach Grösse des Lecks kann die eingepumpte Luft aber dort bereits entweichen und verhindert so den Druckaufbau. Dann ist eine Reparatur unter Wasser notwendig, was bei entsprechender Seetiefe sehr aufwändig ist.»

«Ein entstandenes Leck rasch zu identifizieren und abzudichten ist eine der grossen Heraus­forderungen.»

Dipl.-Ing. Norbert Schwarz, MBA, Geschäftsführer des Wasserverbandes Ossiacher See (WVO)

Herausforderung Messgenauigkeit

Die Dichtheit der Rohre wird durch den Vergleich der Mengenmessungen bei den Pumpstationen und dem Anlandungsschacht ständig überwacht. Ganz so einfach ist dies jedoch nicht. «Das Abwasser hat drei Aggregat­zustände: Eine Phase mit fester Fracht, eine flüssige als Wasser und eine gasförmige, vor allem in Form von Schwefel­wasserstoff», erklärt Norbert Schwarz. Die exakte volumetrische Messung ist deshalb schwierig, denn die Durchflussmesser sind auf ein Medium kalibriert, idealerweise bei einem gefüllten Rohr. Neben dieser Mess­ungenauigkeit entsteht in der Bilanz zwischen Ein- und Ausgang der Leitung ein weiterer Fehler: Es gibt Fliess­zeiten, das Abwasser hat aber auch Stehzeiten in der Leitung. Dabei laufen biologische Prozesse ab. Insgesamt dauert es rund drei Stunden, bis das gesamte Volumen der Seedruckleitung gepumpt und ausgetauscht ist.

«Dazu kommt, dass die Leitung nicht ­ideal flach auf dem Seegrund liegt, sondern in Hügeln und Tälern verläuft», beschreibt der Ingenieur eine weitere Problematik. In den lokalen Höhenmaxima gibt es Gasansammlungen, und die einzelnen Phasen des hetero­genen Gemisches haben unterschiedliche Fliessgeschwindigkeiten.

Allein mit Durchflussmessungen kann man also nicht feststellen, ob die Menge des in die Leitung eingepumpten Abwassers exakt dieselbe ist, welche am Anlandungsschacht ankommt. Deshalb werden im RITOP-Leitsystem zusätzlich die Ergebnisse einer Vielzahl von Druckmessungen mit den volumetrischen Messungen intelligent kombiniert. Bei einem Leck verändert sich der Eingangsdruck in die Leitung und damit der Betriebspunkt der Pumpe: «Ein Leck wirkt wie ein Bypass, Wasser tritt ‹unterwegs› aus. Die Pumpe muss damit nicht mehr das gesamte Abwasser durch das Rohr schieben, braucht also weniger Druck», erklärt Dipl.-Ing. Schwarz das Prinzip. Abhängig vom Ort des Lecks sind die zu detektierenden Druckunterschiede jedoch sehr klein. «Dies erfordert ausgeklügelte Algorithmen in der Datenauswertung», schmunzelt Norbert Schwarz.

«Eine intelligente Überwachung und Anlagensteuerung ist das A und O.»

Robustes Material

Die Rohre sind aus hochdichtem Polyethylen (PE-HD), einem äusserst langzeitstabilen Material, gefertigt. Das zeigten Untersuchungen, die in den vergangenen Jahren vom Hersteller der Rohre und einem unabhängigen Ingenieurbüro im Auftrag des WVO durchgeführt wurden: «Wir waren erstaunt, in welch gutem Zustand die Kunststoffe, die bereits über 40 Jahre im See liegen, noch waren», sagt Norbert Schwarz. Landverlegte Kanäle werden in der Regel nach längstens 50 Jahren saniert.

«Wir gehen inzwischen von einer praktischen Nutzungsdauer der Leitungen von mindestens 100 Jahren aus.»


Anfälliger sind die Rohre hingegen auf mechanische Belastungen von aussen. «Beim Verlegen kann man die exakte Position der Rohre praktisch nicht voraussagen», erklärt Norbert Schwarz. «Kommen die Leitungen auf Findlingen am Seegrund zu liegen, ist das kritisch. Denn beim Einschalten der Pumpen erhält die in der Leitung befindliche Wassersäule immer einen kleinen Stoss, das Rohr bewegt sich – und kann scheuern.» Mit dem Ausbau 2017 wurden Kunststoffe der neuesten Generation PE-HD ‹RC› (Resistive Crack) verbaut. Dadurch werden die ­Rohre gegenüber Scheuerstellen mechanisch noch robuster.

Sicherheitsaspekt 2: Hydraulisches Management

Die zweite grosse Herausforderung besteht im hydraulischen Management des Seeleitungssystems, denn insgesamt werden rund 1,1 Mio. Kubikmeter Abwasser pro Jahr durch die Seeleitungen befördert. Mit dem Zubau im Jahr 2017 sind nun alle Teilstrecken doppelt geführt, und eine zusätzliche Leitung am Südufer entlastet das «hydraulische Nadel­öhr» bei der Pumpstation Tschöran etwas östlich der Mitte des Sees. Diese Station dient als Puffer für die Transportmengen, welche von der Ostseite des Sees zur Westseite in Richtung Kläranlage Villach über mehrere Stufen kaskadiert geleitet werden.

«Trotzdem sind die hydraulischen Kapazitäten begrenzt und wir müssen besorgt sein, Fehleinleitungen ins Abwassernetz zu vermeiden», so Schwarz. Mit Kameraüberwachungen und regelmässigen Berauchungen des Kanalsystems versucht die WVO, Leckstellen rasch zu entdecken und so das Einfliessen von Grund- oder Oberflächenwasser ins Kanalsystem zu verhindern. Das ist besonders bei lokalen Starkregenereignissen wichtig, denn diese haben an Intensität und Häufigkeit zugenommen. Neben der doppelten Leitungsführung wurde deshalb auch technisch aufgerüstet: Die bisherigen Pumpen wurden alle durch umrichtergesteuerte ersetzt, sodass im Notfall durch einen überfrequenten Betrieb die Fördermengen nochmals gesteigert werden können. «Und natürlich gibt es Havariekapazitäten. Aber die sind, wenn man sie nicht ­geschickt nutzt, rasch aufgebraucht», sagt der Geschäftsführer. «Eine intelligente Überwachung und Anlagensteuerung ist deshalb das A und O.»

Kapazitäten geschickt nutzen

Die neun Hauptpumpstationen der Seedruckleitungen werden von rund 230 weiteren, in den Ortsnetzen verteilten Pump­stationen beschickt. Die RIFLEX-Steuerungen der Hauptstationen sind alle über Digitalfunk mit exklusiven Funkfrequenzen an das RITOP-Leitsystem in der Zentrale angebunden. Hier wird entschieden, welche Station pumpen muss, und welche warten kann, weil es noch Reserven gibt. Und wie man geschickt die in der Anlage vorhandenen Pufferspeicher beschickt. «Zukünftig wollen wir im Leitsystem auch Wetterprognosen berücksichtigen. Wenn sich Gewitterzellen der Region nähern und eine hohe Niederschlagswahrscheinlichkeit besteht, könnten wir so automatisiert aus den Anlagen abpumpen und präventiv Speicher­volumen an den Pumpstationen schaffen», gibt Norbert Schwarz einen ­Ausblick.

Die richtige Wahl

Die Entscheidung im Jahr 1970, eine Seeleitung zu verlegen, ist für den Geschäftsführer auch heute noch die richtige: «Trotz den Schattenseiten, die es gibt und den durch die klimatischen Änderungen nochmals massiv gestiegenen Anforderungen.» Diese betreffen insbesondere die Überwachung, und damit die Messtechnik und eine immer grössere Datenflut. «Um diese zu beherrschen, benötigen wir noch komplexere mathematische Modelle», ist sich Norbert Schwarz sicher. «Da bin ich froh, mit Rittmeyer einen langjährigen Partner an der Seite zu haben, der uns, unser System und unsere Anforderungen kennt – und der in der Lage ist, diese auch umzusetzen.»

Bildnachweis: iStock/Tatiana Dyuvbanova (Titelbild), Wasserverband Ossiacher See (Bilder 1 und 3)

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verlegte Druckleitung

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Abwasser jährlich

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Fliessgeschwindigkeit im Rohr

Video der Verlegung

Das österreichische Unternehmen ­Felbermayr verlegte die Leitungen. Die eindrückliche Ingenieurleistung wurde in einem kurzen Video ­festgehalten.