transfer Ausgabe 01 | 2020

Modelle gegen die Unsicherheit

Komplexe Integration erneuerbarer Energien in die Stromversorgung

Das Stromnetz der Zukunft: Wie sieht es aus? Und vor allem: Wie gelangen wir dahin? Antworten auf diese Fragen sucht das Institut für elektrische Energieübertragung und Hochspannungstechnik der ETH Zürich mit der Gruppe um Prof. Dr. Gabriela Hug. Sie gewährt uns einen Einblick – und einen Ausblick.

Frau Hug, Stromversorgung ohne Bandenergie der Kernkraft, volatile Verfügbarkeit der Erneuerbaren, zunehmend stromhungrige Verbraucher. Und so weiter. Wie kann man denn bei so vielen Unwägbarkeiten überhaupt ein Versorgungsnetz der Zukunft planen?

Das ist in der Tat sehr komplex. Die Physik ist dabei aber nur ein Teil. Auch der Markt ist entscheidend dafür, ob und was sich überhaupt realisieren lässt. Und die Regulierungen, die bestimmen, was man tun darf und was nicht. Ich denke da beispielsweise an den Handel von Strom unter Privaten, die Eigenverbrauchsgemeinschaften und deren Grenzen.

Um ein solches Gebilde für die Zukunft zu planen, braucht es mathematische Modelle des Gesamtsystems. Dazu müssen verschiedene Wissenschaften und Einrichtungen zusammenarbeiten: Wirtschafts- und Politikwissenschaften, Elektrotechnik, Maschinenbau und Gebäudetechnik, Risikomanagement, etc. Dies tun wir in Kollaboration mit dem Energy Science Center an der ETH, der Forschungsstelle Energienetz und diversen Lehrstühlen. All diese Expertisen müssen einfliessen.

Wir haben heute eine zu praktisch 100% verfügbare Stromversorgung. Diesen Status Quo will ja auch niemand verlieren. Welche Überlegungen sind dazu notwendig?

«Wenn man Atomkraftwerke durch Erneuerbare ersetzen will, stellt sich natürlich die Frage, welche Reserven man einplanen muss, um Unsicherheiten in der Versorgung durch Erneuerbare auszugleichen. Und wo.»


Prof. Dr. Gabriela Hug, Leiterin Institut für elektrische Energieübertragung und Hochspannungstechnik, ETH Zürich

Eine weitere interessante Fragestellung in diesem Zusammenhang ist, wie sich die Energieversorgung im benachbarten Ausland zukünftig entwickeln wird. Würden wir dies ignorieren, kämen wir zu bedeutend anderen Resultaten bezüglich Verfügbarkeiten, und den Möglichkeiten zum Import bzw. Export von elektrischer Energie. Wenn jeder auf Solarenergie setzt, dann wird es an einem sonnigen Tag, wo wenig verbraucht wird, auch im Ausland wenige Abnehmer geben. Solche Abhängigkeiten zu modellieren ist herausfordernd.

Wie berücksichtigt man den internationalen Kontext?

Einer der Ansätze ist in der Plattform ‹Nexus-e› umgesetzt, mit der wir komplexe und interdisziplinäre Fragen untersuchen wollen. Also beispielsweise wie sich technische, sozioökonomische und politische Entscheidungen auf die Leistung des zukünftigen Energiesystems auswirken. Dieser Modellierungsrahmen hat die Fähigkeit, Synergien zwischen bestehenden Modellen zu schaffen und aktuelle Modellierungsparadigmen für Energiesysteme zu erweitern.

«Regulatorische Entscheide beeinflussen die Netzentwicklung massiv.»

Grosse Unsicherheiten verursachen dabei regulatorische Entscheide. Sie haben einen massiven Einfluss darauf, wie sich das Netz entwickeln wird. Fördermassnahmen laufen aus, Bewilligungsverfahren werden verzögert. Ein Beispiel hierfür ist der stagnierende Ausbau der Windkraft in Deutschland. So etwas ist schwer ‹planbar› oder vorhersehbar.

Und wie plant man den Stromkunden? Verbraucht er mehr oder weniger, oder einfach anders als heute?

Die Energiestrategie 2050 hat ja auch zum Ziel, ganz generell den Energieverbrauch zu reduzieren. Nur: wollen wir unser gesamtes Energiesystem nachhaltiger machen und die Dekarbonisierung vorantreiben, dann ist die Elektrifizierung von Verbrauchern entscheidend. Denken wir an die Mobilität. Hier ist es wünschenswert, dass der elektrische Energieverbrauch, der als Ersatz für die weniger nachhaltigen Energieformen der fossilen Brennstoffe dient, zunimmt.

Was auf physikalischen Gesetzen beruht, ist dabei relativ einfach zu modellieren. Dort hingegen, wo man Annahmen treffen muss, gibt es Unsicherheitsfaktoren: Wo wird es wann Elektroautos geben? Wie entwickeln sich die Kosten für die Produktion von Strom? Und wie die Preise für Solaranlagen und Speicher?

Auch bei diesen Annahmen helfen uns Plattformen wie Nexus-e. Es verbindet die verschiedenen Forschungsrichtungen, macht die Abhängigkeiten zwischen den Energiesektoren sichtbar und ermöglicht so die Harmonisierung verschiedener Forschungsstandpunkte. Allerdings ist das wirklich sehr aufwändig und benötigt unglaubliche Rechenressourcen, die wir derzeit gerade wieder aufstocken. (schmunzelt)

Auf den ersten Blick klingt das nach ‹nicht lösbar›…!?

Doch, sicher: Es ist machbar! Offen ist, wie so häufig, die Frage nach den Kosten. Selbst falls damit unsere zukünftige Stromversorgung teurer werden sollte, dann ist es, wie ich finde, gerechtfertigt. Es darf auch etwas kosten. Man kann doch nicht einfach auf die Frankenbeträge schauen. Richtigerweise müsste man hierzu ebenso beispielsweise die Entwicklung der Gesundheits- und Umweltkosten betrachten, wenn wir so weitermachen wie bisher.

«Unsere zukünftige Stromversorgung darf doch etwas kosten.»

Strom ist auch etwas, das wir haben wollen, auf das wir nicht verzichten wollen, dessen Verfügbarkeit bei uns äusserst hoch ist. Es gibt sogar Forschung dazu, wie viel dem Konsumenten die Zuverlässigkeit des elektrischen Netzes wert ist. Man könnte sich beispielsweise Tarifmodelle ausdenken, die einen Preisnachlass gewähren, wenn man pro Jahr eine gewisse Zeit ohne Strom sein kann. So beeinflussen Geschäfts- und Marktmodelle auch das physikalische Netz.

Vielleicht war den meisten bei der Abstimmung zur Energiestrategie 2050 nicht so ganz klar, dass man nicht einfach die Atomkraftwerke abschalten kann. Sondern dass es unter anderem auch ein gewisses Engagement des Verbrauchers benötigen wird.

«Wenn die Stromkunden ihre Flexibilitäten anbieten aber auch selbst investieren, kann die Energiestrategie 2050 gelingen.»

Das macht es sicher einfacher, als wenn beim Verbraucher einfach alles beim Alten bleibt und man trotzdem die Energiestrategie umsetzen will – ohne dessen Beteiligung.

Die Einspeisung wird dezentraler, die Netze komplizierter und weniger planbar. Wie bekommt man das in Griff?

Zukünftig werden wir wohl am ehesten eine Mischform haben von Dingen, die zentral beobachtet und gemanagt werden müssen, und lokalen Entscheiden. Eine zentrale Steuerung, so wie wir sie heute kennen, wird aus meiner Sicht gar nicht mehr möglich sein. Wir reden von Millionen von Datenwerten. Und Daten sind nicht gleich Information. Man muss sie auch interpretieren können, um sie nutzbar zu machen. Deshalb geht es darum, bereits lokal intelligente Entscheide zu treffen, und diese Informationen über den Netzabschnitt hinaus auszutauschen, um so ein besseres Monitoring des Gesamtnetzes zu ermöglichen. Die Kommunikation zwischen den einzelnen Einheiten stellt zwar einen zusätzlichen Aufwand dar, ist aber aus meiner Sicht der nachhaltigere Ansatz der Umsetzung.

Das gilt auch länderübergreifend? Wir sind Teil eines riesengrossen europäischen Netzes.

Absolut. Alles, was wir jetzt überlegen, muss Hand in Hand mit den Überlegungen der Nachbarländer gehen. Wir müssen das Ausland einbeziehen in die langfristigen Planungen und die Entscheide, die Einfluss darauf haben, wie und wo Abhängigkeiten entstehen. Die politische Dimension ist dabei sicher nicht ganz einfach. Ob das Stromabkommen mit der EU zustande kommt, hängt auch von den Ergebnissen der Rahmenvertragsverhandlungen ab.

Natürlich stellt sich die Frage: Wie stark will man vom Ausland abhängig sein? Es ist absurd, wenn wir Atomkraftwerke abschalten, im Nachbarland aber neue gebaut werden und wir den Strom von dort beziehen.

«Physikalisch ist es nicht möglich an der Grenze ‹schlecht produzierten Strom› zurückzuweisen.»

Wir können uns nicht abkapseln. All dies spielt bei den Überlegungen für die Zukunft unserer Stromversorgung mit. Auf dem Weg dahin gibt es jedoch viele Dinge, die wir als Schweiz ‹lokal› entscheiden können und müssen. Beispielsweise wenn es darum geht, wie wir dezentrale Ressourcen optimal ausgleichen können.

Trügt denn die Wahrnehmung, dass in der Schweiz irgendwie die Weiterentwicklung ‹steht›?

Zu einem bestimmten Grad stimmt das vielleicht. Es bräuchte sicher mehr Investitionen in erneuerbare Energien. Ob es dazu eine zusätzliche Förderung braucht, oder vielleicht nur neue Business-Modelle, ist schwierig zu beantworten.

Ich sehe unsere Aufgabe vornehmlich darin, herauszufinden, was unterstützend im Netz passieren muss, um die Energiestrategie und den dort beschriebenen Leistungsbedarf umzusetzen. Wir schauen dabei weniger auf Fördermassnahmen, sondern was dazu auf der Netzseite passieren muss: Wieviel Ausgleich kann man aus der Flexibilität der Kunden bekommen? Wo können Speicher helfen? Was könnte man erreichen, wenn man ein Netz genauer modellieren könnte – und es damit weniger konservativ dimensionieren muss? So gibt es viele Fragen, die noch nicht befriedigend beantwortet sind.

Sollten sich Stromversorgungsunternehmen nicht mit diesen Fragen beschäftigen?

Viele machen das, ja. Und es gibt sogar kleinere EVUs, die motiviert sind, aktiv etwas zu tun. Wie beispielsweise das EW Walenstadt mit ihrem Projekt ‹Quartierstrom› (Anm. d. Red.: Lesen Sie dazu auch den Beitrag «Der Handel im Wandel»). Aber es gibt sicher auch Energieversorger, die eher konservativ unterwegs sind und die Vorreiterrolle scheuen: Wollen wir uns beteiligen, oder warten wir ab und bleiben so wie wir sind? Die Frage ist ausserdem, schaue ich als Verbundunternehmen über meine ‹Energiegrenzen› hinaus – Strom, Gas, Wasser, Wärme – oder behandle ich das isoliert? Da kommt es sicher sehr darauf an, wer leitet und wie interessiert die Mitarbeitenden sind.

Sind andere Länder weiter?

In einzelnen Aspekten sind verschiedene Länder unterschiedlich weit. In der Elektromobilität ist beispielsweise Norwegen absoluter Vorreiter, bei der Windenergie ist es Dänemark. Ich kann zwar nicht beurteilen, ob die Entwicklung zukünftiger Energiekonzepte in anderen Ländern generell rascher voranschreitet. Aber man hat schon manchmal das Gefühl, es geht in der Schweiz nicht ganz so schnell vorwärts.

Können wir aufholen?

Vielleicht entspricht das derzeitige Vorgehen einfach ein bisschen der Schweizer Mentalität, eher etwas vorsichtiger zu sein. Natürlich haben wir den Vorteil, dass bereits ein grosser Teil unserer Stromproduktion aus der Wasserkraft kommt. In Deutschland die Energiewende von Kohle zu schaffen, ist sicher eine grössere Herausforderung als in der Schweiz, wo wir schon relativ viel Erneuerbare im Netz haben. Trotzdem bleibt die Frage, wie wir die Atomkraft ersetzen wollen.

Damit man etwas weiterbringen kann, braucht es auch einen Anstoss. Meiner Meinung nach hält sich derzeit die Wahrnehmung, dass es noch Zeit hat. Und dass die neuen Technologien noch nicht weit genug entwickelt sind. Ein grosser Schritt wäre es schon, wenn es gelänge, Verständnis dafür zu erreichen, dass das elektrische Netz ein ziemlich komplexes Gebilde ist. Dabei müssen Erzeugung und Verbrauch immer im Gleichgewicht sein. Natürlich kann man etwas speichern. Aber das ist deutlich komplizierter als der Öltank oder der Kohleberg, den man ansammeln und dann Zug um Zug abbauen kann. Das ist sicher das erste, das man verstehen muss. Und damit könnte man vielleicht erklären, warum Solarenergie allein ohne unterstützende Technologien nicht die Lösung ist.

Frau Prof. Dr. Hug, herzlichen Dank für das Gespräch.

Bildnachweis: iStock/brichuas (Titelbild)

Zur Person

Prof. Dr. Gabriela Hug (*1979) ist ordentliche Professorin für Elektrische Energieübertragung an der ETH Zürich und eine international viel beachtete Wissenschaftlerin. Im Zentrum ihrer Forschungstätigkeit stehen der Entwurf und die Optimierung von zukünftigen Energienetzen. Dabei ist ihr ein starker Praxisbezug wichtig.