transfer Ausgabe 01 | 2018

Kampf dem Hochwasser

Aktive Seesteuerung zum Schutz von Zürich und Umgebung

2005 entging Zürich nur knapp einer Hochwasser-Katastrophe. Der Kanton Zürich traf deshalb Vorkehrungen, um die Stadt im Falle eines erneuten Hochwassers zu schützen. Eine zentrale Massnahme ist die aktive Steuerung des Sihlsees.

Die Etzelwerke AG – eine Tochtergesellschaft der Schweizerischen Bundesbahnen SBB – betreiben ein 134-MW-Kraftwerk in Altendorf am oberen Zürichsee zur Produktion von Bahnstrom. Als Speicherbecken dient der Sihlsee, der flächenmässig grösste Stausee der Schweiz. Das Kraftwerk deckt etwa 10% des benötigten Bahnstroms in der Schweiz ab.

Nach gut 80 Jahren Betriebsdauer plant die SBB eine schrittweise Erneuerung des Werks. Diese umfasst neben dem Ersatz der Stahl-Druckleitung und drei Maschinengruppen im Kraftwerk auch die technische Modernisierung des Hydroleitsystems bei der Stauanlage ‹In den Schlagen› am Sihlsee. Die Leistung des Kraftwerks bleibt unverändert. «Es ist geplant, alle Elemente, die am Ende ihrer Lebensdauer angelangt sind, zu ersetzen. Das betrifft auch unser komplettes Hydroleitsystem», beschreibt Jürg Nachbur, Projektleiter Bau und Technik für Grossprojekte bei der SBB, die Erneuerung.

Synergien nutzen

Gleichzeitig hat der Kanton Zürich mehrere Massnahmen zum nachhaltigen Hochwasserschutz definiert (Video mit detaillierten Informationen). Als mittelfristige Lösung soll mit der aktiven Sihlseesteuerung (ASS) die Abflussmenge der Sihl bei einer Hochwasserentlastung unterhalb der Staumauer begrenzt werden. Für den langfristigen Hochwasserschutz von Zürich wird auf halbem Weg zwischen dem Sihlsee und Zürich bei Thalwil ein Entlastungsstollen gebaut.

Um Synergien mit dem Hochwasserschutzprojekt zu nutzen, beauftragte der Kanton Zürich die SBB damit, die ASS im Zuge der Modernisierung des Hydroleitsystems zu berücksichtigen. «Wir betreiben die Anlagen am Sihlsee und kontrollieren sie; alles läuft über unser Datennetzwerk. Es macht Sinn, den Ersatz des Hydroleitsystems und die ASS gemeinsam umzusetzen», erklärt Jürg Nachbur.

Erfahrung zählt

Die Erneuerung des Hydroleitsystems umfasst die Erstellung eines Haupt- und Not-Systems mitsamt RITOP-Servern, -Bedienstellen und dem Kommunikationsnetz. Zudem wurden neue Messstellen hinzugefügt und bestehende Messstellen erweitert.

«Wir haben im Submissions-Verfahren bei der Auswahl des Leittechnik-Anbieters dafür gekämpft, dass die Erfahrungen der Schlüsselpersonen in der Umsetzung vergleichbar komplexer Anforderungen sehr hoch gewichtet werden. Wir sind froh, dass wir mit Rittmeyer einen passenden Partner gefunden haben», freut sich Jürg Nachbur.

«Klar, die Geräte, welche eingebaut werden, sind wichtig – aber das Know-how zu messtechnischen Topologien und zur Einbindung verschiedener Messtechnik-Betreiber ebenfalls.»

Jürg Nachbur, Projektleiter Bau und Technik (Grossprojekte), SBB

Zahlreiche Einflussfaktoren

Zentral ist bei der ASS die sogenannte ‹Dreiwässernbedingung›. Der Abfluss der Sihl darf bei der Messstelle ‹Dreiwässern› - dem Zusammenfluss von Alp, Biber und Sihl – je nach aktueller Situation nicht mehr als 180–220 m3/s betragen. «Damit stellen wir sicher, dass bei Zürich 300 m3/s nicht überschritten werden – im Einzugsgebiet von Dreiwässern bis Zürich fliesst ja weiteres Wasser hinzu», rechnet der Projektleiter der SBB vor.

Aus ökologischen Gründen muss die SBB zudem eine Restwassermenge in der Sihl unterhalb der Staumauer ‹In den Schlagen› sicherstellen. Neben der Dotiermenge, welche saisonal unterschiedlich ist, ist auch die Geschwindigkeit der Abflussänderungen wichtig. «So geben wir insbesondere den Fischen genügend Zeit, sich bei Pegeländerungen einen sicheren Ruheplatz zu suchen», führt Jürg Nachbur weiter aus.

Bei prognostizierten Starkniederschlägen wird noch eine weitere Sicherheitsmassnahme ergriffen: Der Sihlsee wird bereits vor dem Unwetter abgesenkt, um genügend Retentionsvolumen für den Niederschlag zu schaffen. «Den Entscheid hierfür trifft das Amt für Wasser, Abfall, Energie und Luft (AWEL). Dieser basiert auf Niederschlagsprognosen und den Szenarien aus einem Niederschlag-Abfluss-Modell. Wenn das grosse Niederschlagsereignis dann 2 bis 3 Tage später eintrifft, steht ausreichend Volumen zur Verfügung. Die ASS reduziert die Hochwassergefahr während des Ereignisses dann noch zusätzlich.»

«1 cm Seepegel entspricht 100'000 m3 Wasser – da ist Genauigkeit entscheidend.»

Hohe Anforderungen an die Messtechnik

Die ‹Dreiwässernbedingung› stellt hohe Anforderungen an die Genauigkeit der Messdaten: «Wir haben die Messtechnik entsprechend erweitert. Ein Zentimeter Seepegel entspricht immerhin 100'000 m3 Wasser. Und bei starkem Wind kann sich der Wasserstand vorne an der Mauer um einige Zentimeter ändern – da ist Genauigkeit entscheidend. Mit einer zusätzlichen Messung in der Seemitte können wir diesem Umstand entgegenwirken», so der Projektleiter.

Um stets korrekte Messdaten zu erfassen, führt die SBB die für die Berechnung relevanten Messungen dreifach redundant aus. «Bisher wurden diese grösstenteils nur einfach erfasst. Mit drei Messwerten pro Messstelle haben wir immer eine gute Aussagekraft, selbst wenn eine Messung falsche Werte liefern sollte», ist Nachbur überzeugt. «Dabei verfolgen wir den Ansatz, die Daten von jeder Messstelle über zwei komplett unabhängige Kanäle zu übertragen. Beim Erweitern der bestehenden Datenkanäle mussten wir darauf achten, dass sich an keinem Punkt der Übertragung die Wege der Daten kreuzen. Es war ganz schön herausfordernd, dabei den Überblick zu behalten – schon deshalb, weil die Netze von zwei Telekomanbietern im Spiel sind», beschreibt Jürg Nachbur die Erweiterung.

Die Planung der Automatisierung selbst stellte eine weitere Herausforderung dar: «Die Messstellen sind geografisch weit ausgedehnt. Bei der Sihl haben wir die Möglichkeit, mit der Stauanlage den Abfluss zu regulieren. Alp und Biber können wir jedoch nicht steuern – das Hochwasser kommt, wann es kommt.»

«Das Gebiet im Zulauf der Alp ist relativ feucht, dadurch kann der Boden fast kein Wasser aufnehmen. Das Wasser fliesst schnell ab, und die steilen Hänge beschleunigen es zusätzlich. Da muss schnell reagiert werden können.»

Mario Renggli, Rittmeyer-Projektleiter

Dem wird mit einer neuen Messstelle beim Zufluss der Alp Rechnung getragen: «Die Hochwasserwellen benötigen von der neuen Messstelle oberhalb von Einsiedeln bis zur Messstelle Dreiwässern ca. eine halbe Stunde. Das ist viel Zeitgewinn», komplettiert Jürg Nachbur.

Komfortable Lösung

Neun RIFLEX-Prozessstationen automatisieren die verschiedenen Anlagenteile. Die Bedienung von Grundablass, Windenhaus und Schieberkammer der Staumauer kann bei Bedarf zusätzlich zur zentralen Steuerung auch über RITOP-Panels vor Ort erfolgen. Die Architektur des Leitsystems ist redundant aufgebaut: Im Betriebsgebäude der Staumauer und im Kraftwerk in Altendorf befindet sich je ein RITOP-Server sowie eine RITOP-Bedienstation. «Die Bedienung ist jetzt bedeutend einfacher. Bisher war die Steuerung eher umfangreiches Handwerk, die Verantwortung der Bedienung lag ausschliesslich beim Personal. Sobald ein bestimmter Seestand erreicht wurde, haben wir anhand einer Tabelle entlastet. Und dies geschah dann ohne Blick auf die ‹Dreiwässernbedingung›», freut sich der Projektleiter über den Fortschritt.

«Bisher war die Bedienung der Schütze eher umfangreiches Handwerk.»

Sicherheit geht vor

Der Schutz der Stauanlage wird immer höher gewichtet als der Hochwasserschutz der Unterlieger. Die Massnahmen hierzu sind im Wehrreglement der SBB klar festgelegt. «Ab einem bestimmten Seepegel kann auch mit der neuen Steuerung der Hochwasserschutz nicht mehr berücksichtigt werden. Dieser Fall tritt aber glücklicherweise nur ganz selten ein», führt Jürg Nachbur abschliessend aus.