transfer Ausgabe 02 | 2017

Herausforder­ung Daten

Bewirtschaftung eines Kanalnetzes zwischen Modell und Realität

Winterthur ist mit 112'000 Einwohnern die sechstgrösste Stadt der Schweiz. Sie bewirtschaftet ein Kanalnetz mit einer Länge von über 340 km, sechs massgebliche Regenbecken und über 60 Regenüberläufe. Mit Christian Güdel, Leiter Bereich Infrastruktur der Stadtentwässerung Winterthur, haben wir darüber gesprochen, welche Überlegungen ihn im Hinblick auf eine zukunftsorientierte Bewirtschaftung des Kanalnetzes leiten.

Herr Güdel, die Gewässerschutz-Anforderungen steigen, oft wird bereits von einer stärker an der Immission orientierten, gesamtheitlichen Betrachtung in der Planung von Abwassertransport- und -behandlungsanlagen gesprochen. Wie geht Winterthur dabei vor?

Winterthur hat seinen Generellen Entwässerungsplan (‹GEP›) 2004 verabschiedet. 2010 wurde das vsa Musterpflichtenheft zum GEP neu verfasst. Seither versuchen wir eher in einer rollenden Planung unsere Stadtentwässerung weiter zu entwickeln. Wir haben dazu 2013 einen internen Statusbericht verfasst, der den Stand unseres GEP zusammenfasst. Darin beschreiben wir kurz und griffig unsere eigenen und natürlich auch die von Gesetzes wegen geforderten Ziele. Abweichungen werden in einem Massnahmenplan terminiert. Alle zwei Jahre wird er neu erstellt und dabei die Zielerreichung überprüft.

Vor welchen Herausforderungen stehen Sie konkret?

Das ganze System in Winterthur ist komplex. Wir haben heute schon ein grosses Einzugsgebiet, ein umfangreiches Kanalnetz, das meist im Mischsystem, aber auch ca. 30% im Trennsystem aufgebaut ist. Ausserdem besteht der Wunsch, zukünftig weitere Aussengemeinden auf die städtische Kläranlage zuzuführen, denn im Hinblick auf die kommenden Investitionen bei Kläranlagen, Stichwort: Mikroverunreinigungen etc., werden die kleineren Kläranlagen an ihre Grenzen stossen. Damit wird das Netz noch ausgedehnter. Das Abwasser von Aussengemeinden wird dann mehrere Regenbecken und Regenüberläufe durchlaufen bis es in der Kläranlage gereinigt werden kann.

Bei Trockenwetter oder leichten Regen ist das machbar. Bei mittleren oder stärkeren Regenereignissen besteht jedoch das Problem, dass sich das Schmutzabwasser aus den seriell geschalteten Trennsystemen mit dem Mischabwassersystem vermischt. Der Entlastung in diesen Abschnitten des Mischsystems ist deshalb erhöhte Beachtung zu schenken.

Warum? Früher hat man die Ableitungen einzelanlagenbezogen auf Basis von ‹maximalen Einheitsregen› und entsprechend der Vorgaben, beispielsweise auf ein 10-jähriges Regenereignis hin, abgestimmt und dimensioniert. Dieser Auftrag der Gemeinde muss funktionieren, das ist ja sozusagen das ‹Kerngeschäft› für den Schutz von öffentlichen und privaten Investitionen. Für den Gewässerschutz ist jedoch wichtig, wie gut das Gesamtsystem bei Regenereignissen funktioniert. Da zeigt sich die Qualität einer guten Entwässerung, denn ich möchte ja bei den schwachen und mittleren Regen nicht zur Entlastung gezwungen werden. Und da geht es um die richtige Dimensionierung und die richtige Einstellung aller Sonderbauwerke – primär der Regenbecken, die Pufferwirkung haben und für eine bessere Qualität des Entlastungsabwassers sorgen sollen. Aber was nützen Regenbecken, wenn vorgestellte Regenüberläufe frühzeitig anspringen würden. Das Gesamtsystem macht die Qualität aus.

«Vor allem bei den schwachen und mittleren Regenereignissen zeigt sich bei einem Mischsystem die Qualität einer guten Entwässerung.»

Wie gehen Sie nun vor, um im Hinblick auf die Veränderungen im Netz und angesichts immer strengerer Vorgaben an den Gewässerschutz, vorbereitet zu sein?

Bis vor wenigen Jahren war das Verhalten des Netzes bei Regenereignissen immer eine theoretische Modellannahme gewesen, die Durchdringung von Messtechnik im Netz hat sich nur zaghaft entwickelt. Inzwischen haben wir diese in unseren Sonderbauten installiert und überwachen sie am netzeigenen Leitsystem. Das bringt wertvolle Erkenntnisse. Meist rechnet man doch bis anhin mit den sogenannten ‹typischen Regenereignissen›, hat Modelle, interpretiert diese – kein Modell ist falsch, aber auch keines richtig, und am Schluss relativiert man dann alles.

«Meine Vision ist, dass wir immer mehr aus den tatsächlichen Ereignissen lernen und uns so grösseres Wissen des Netzverhaltens aneignen.»

Wir haben beispielsweise vor zwei Jahren die Regenereignisse aus 10 Jahren am Standort Winterthur digitalisiert und versucht, aus dieser Unzahl von Regenereignissen Rückschlüsse zu ziehen. So etwas hilft zum Beispiel, um Langzeitsimulationen zu verbessern. Es bringt aber ebenso mehr Kenntnis zum Verhalten des Netzes und letztlich auch zum Verhalten des Gewässers. Ich denke, in diesen drei Bereichen sind wir gut aufgestellt und auf dem richtigen Weg.

Bei allem stellt sich ja dann die Frage nach ‹Messtechnik›?

Im Gewässerbereich haben wir ein Monitoring aufgebaut, denn wir wollen ein reales Bild, wie naturnah unsere Gewässer sind. Es ist zwar schwierig, wenn ein relativ grosses Einzugsgebiet wie das unsere in ein relativ kleines Gewässer wie die Eulach einleitet. Da erkennt man ja kaum mehr, welches Regenbecken welchen Einfluss hat, wenn alle wenige hundert Meter ein Einleiter oder ein Regenüberlauf entlastet. Messen ist nicht an jedem Ort sinnvoll. Aber wenn wir uns nur schon auf die vielleicht 10 grossen und volumenmässig bedeutenden Einleiter konzentrieren, dort in Messtechnik investieren und diese geschickt bewirtschaften, dann haben wir eine nicht unwichtige Stellschraube.

«Ich halte es für wichtig, das ‹System Regen› noch besser zu kalibrieren.»

Viele Betreiber schliessen heute noch den Regen in ihren Messergebnissen aus – der ist einfach ‹gegeben›. Wir haben inzwischen drei eigene, kurz getaktete Regen-Messstellen. So gelingt es uns, die Intensität des Regens mit einem dabei stattgefundenen Ereignis besser zu überlagern. Dadurch entsteht mehr Klarheit über den Zusammenhang zwischen Auslöser und Reaktion des Netzes. Und wenn ich jetzt von einer Vision spreche, dann könnten wir diese Messergebnisse zukünftig auf vielleicht 20 charakteristische Regen verdichten, zu denen wir zugleich noch das entsprechende Verhalten der Gewässer kennen – dann, denke ich, gibt es ein grosses Potenzial für die Steuerung durch Leitstellen.

Aber wir müssen ja auch auf dem Boden bleiben, wir werden kaum jemals auf alle Regen genau richtig antworten können. Aber wir könnten besser reagieren und dem Ziel, das Entlastungsvolumen möglichst klein zu halten und möglichst viel über die Regenbecken zu leiten, näherkommen. Gerade bei schwachen und mittleren Regen.

Natürlich ist im Messwesen vieles machbar, nur bleibt bis heute die Kommunikation das limitierende und kostentreibende. Wie binde ich das wirtschaftlich und sinnvoll in das Leitsystem an? Das ist sehr teuer, denn wir wollen ja zeitnah die realen Messwerte am Leitsystem haben. Und je weiter das Netz ausgedehnt ist, umso grösser ist diese Aufgabe.

Und schliesslich bleibt eine Herausforderung bestehen: Es entstehen beliebig viele Messdaten. Wie stelle ich fest, ob sie plausibel sind? Wie erkenne ich aus den vielen Messwerten die relevanten? Wie setze ich Messwerte zueinander in Bezug? Dann sind wir rasch bei der Frage nach der Sinnhaftigkeit. Denn wenn ich nicht alle erhobenen Daten nutzen kann, dann kann ich das genau genommen lassen. Also müssen wir auch dafür Kapazität zur Verfügung stellen. Eine geschickte Visualisierung unterstützt dabei die Auswertung massgebend. Das heisst also: Wir müssen nicht nur Daten sammeln, sondern sie überdies auswerten. Ein teures Leitsystem nützt nichts, wenn keine Person zur Verfügung steht, welche die richtigen Schlüsse daraus zieht.

Wie weit sind Sie in der gesamtheitlichen, immissionsorientierten Betrachtung am Gewässer? Welche Überlegungen gibt es da konkret auf den Anteil des Netzes bezogen an der Gesamtfracht?

Der Gedankenansatz von STORM* ist selbstverständlich wichtig. Wenn ich nun auf die komplexe Netzstruktur mit der Vielzahl der Einleiter schaue, dann sehe ich natürlich auch unsere Verpflichtung, dass nicht nur die Kläranlage, sondern genauso das Netz einen Beitrag zum Gewässerschutz zu leisten hat.

Es sind ja grundsätzlich zwei Betrachtungen: Wenn es nicht regnet, dann geht es um die Abwasserbehandlung. Das ist zu 100 Prozent Aufgabe der ARA. Im Regenfall kommt dann in unserem Mischsystem das Netz ins Spiel. Nur wie kann man mit der vorliegenden Dichte der Einleitungen umgehen? Mit dem Monitoring versuchen wir jetzt eher praxisnah einen Eindruck zu gewinnen.

Trotzdem bleibt die Frage: Wie ordnen wir die Ergebnisse zu? Messen wir jetzt drei Tage nach einem Ereignis oder drei Wochen danach? Und wo messen wir? Und welche Erkenntnis können wir daraus ziehen? Wenn ich das an unserem Einleitgewässer Eulach verdeutlichen will: Bei einem Gewitter schnellt der normale Gang innert wenigen Minuten von 400 auf 10–20'000 Liter in der Sekunde an. Wie geht man da mit dem Eintrag um? Das wird sich erst bei anhaltendem Regen verbessern und vergleichmässigen.

Wie sehen Sie ihr Netz in 25 Jahren? Mit welchen Aufgaben werden Sie konfrontiert sein?

Ich denke, wir werden vor allem beim Erkennen der Auswirkungen von Regen viel weiter sein. Was es wohl nicht geben wird, ist ein ‹Automatismus›. Mit der vertieften Datenmenge werden wir aber sicher Charaktere schaffen können, die wir als Basis zielgerichteterer Massnahmen einsetzen können.

Und ich kann mir vorstellen, dass wir eine bessere Qualität in der Vorhersage erhalten. Wird sich das Wetter tatsächlich verändern, nehmen Regenpeaks zu? Wir werden vermutlich vermehrt mit lokalerem Regen zu tun haben, ja. Aber ich befürchte nicht, dass wir mit den Dimensionierungen da an die Grenze stossen.

Herr Güdel, herzlichen Dank für das Gespräch.

 

Dieser Beitrag ist Teil der Interviewreihe «Das gute Gewässer – Handlungsoptionen und Zukunftsgedanken». In diesem Rahmen haben wir uns auch mit Hans Balmer, Gewässerschutzinspektor im Amt für Abfall, Wasser, Energie und Luft (AWEL) des Kantons Zürich und Dr. Markus Gresch, Umweltingenieur und Mitglied der Geschäftsleitung der Hunziker Betatech AG, unterhalten.

Das Interview mit Hans Balmer lesen Sie hier.
Das Interview mit Dr. Markus Gresch lesen Sie hier.

 

* Die bisherige VSA Richtlinie ‹Regenwasserentsorgung› (Richtlinie zur Versickerung, Retention und Ableitung von Niederschlagswasser in Siedlungsgebieten, 2002, aktualisiert 2008), die VSA ‹STORM-Richtlinie› (Abwassereinleitungen in Gewässer bei Regenwetter STORM, 2007), die BAFU Wegleitung ‹Gewässerschutz bei der Entwässerung von Verkehrswegen› (2002) sowie einige weitere Publikationen des VSA und des BAFU zum Thema werden derzeit als neue VSA Richtlinie ‹Abwasserbewirtschaftung bei Regenwetter› zusammengefasst und aktualisiert.