transfer Ausgabe 02 | 2019

Ganz im Verborgenen

Über den Arbeits(all)tag im Kraftwerk Bärenburg

Turbinen zerlegen, Pumpen schmieren, die Seilbahn warten, Bäume fällen, Geländer bauen und noch vieles mehr. Was die Instandhaltungsfachleute der Kraftwerke Hinterrhein so alles leisten, damit der Strom auch morgen noch aus der Steckdose kommt, zeigen uns Johannes Tscharner und Romano Baptista.

8:30 Uhr morgens, Ankunft beim Kraftwerk Bärenburg. Wir sind überrascht, dass hier ein Kraftwerk steht. Jetzt sind wir die Strecke doch schon x-Mal auf dem Weg nach Italien gefahren, aber davon wussten wir nichts. Beim Aussteigen empfängt uns das Sirren der Schaltanlage. Mit 12 Grad ist es noch etwas kühl in Bärenburg im Kanton Graubünden. Wir wechseln unsere Schuhe – im Kraftwerk trägt man Sicherheitsschuhe – und melden uns telefonisch an. Nach ein paar Minuten öffnet Johannes Tscharner die Türe und begrüsst uns. Sein Arbeitskollege, Romano Baptista stösst dazu. Unser Weg ins Gebäude führt uns durch den Maschinenraum. Es ist laut und warm. Im Aufenthaltsraum ist es zwar ruhiger, aber das Brummen der Generatoren ist auch dort deutlich zu hören.

Wie alles begann

«Wie seid ihr denn zu eurem Job bei den Kraftwerken Hinterrhein gekommen», fragen wir die beiden als Erstes. Johannes Tscharner lacht. Obwohl er ganz in der Nähe aufgewachsen ist, wusste er von Bärenburg praktisch nichts: «Und schon gar nichts vom Betrieb eines Kraftwerks.» Nach seiner Ausbildung als Anlagen- und Apparatebauer war er lange in der Textilbranche bei einem Hersteller für Färbemaschinen tätig. Die Inbetriebnahme dieser Anlagen war oft verbunden mit langen Auslandsaufenthalten. Mit der Familie war das nicht so gut zu vereinbaren. Deshalb hat er wieder einen Job in der Nähe gesucht. Das war vor 11 Jahren. Jetzt kümmert er sich um den Unterhalt von übermannshohen Maschinen und Anlagen im Kraftwerk – und ist Talsperrenverantwortlicher.

«Bei mir war das anders», erzählt uns Romano Baptista. Schon sein Vater hat im Kraftwerk Bärenburg gearbeitet. Als Bub hat er ihn während seiner Wochenendschichten öfter mal besucht – damit er nicht so allein ist. Bereits damals haben ihn die grossen Maschinen fasziniert, sagt er. Die Lehre zum Polymechaniker hat er dann auch bei den Kraftwerken Hinterrhein gemacht. Erste Berufserfahrungen sammelte er im Anschluss bei einem Hersteller von Gasturbinen und war ebenfalls viele Jahre im Ausland mit deren Montage und Instandhaltung beschäftigt. Auch ihn zog schliesslich die Familie zurück in die Heimat. Und die Maschinen im Kraftwerk. Seit drei Jahren ist er wieder in seinem Lehrbetrieb angestellt, inzwischen als Instandhaltungsfachmann. «‹Back to the roots› sozusagen», wie er schmunzelnd erwähnt.

Faszination Kraftwerk

Die Arbeit im Kraftwerk ist ziemlich abwechslungsreich und verlangt eine grosse Verantwortungsbereitschaft, wie uns die beiden erzählen. Nicht nur, dass das Kraftwerk einen wesentlichen Beitrag zur Stromerzeugung aus erneuerbaren Energien liefert, es erfüllt auch eine zentrale Aufgabe im Hochwasserschutz: «Wenn die dazu notwendigen Systeme bei einem entsprechenden Ereignis nicht funktionieren, dann würde unsere gesamte Anlage überspült werden, und sicher auch die nahegelegene Autobahn», unterstreicht Johannes Tscharner die Wichtigkeit.

«Ab in den Schacht und nach dem Rechten sehen.»

Priorität Hochwasserschutz

Was dies bedeutet erfahren wir, als uns die beiden rund 50 m3 tiefer in die Anlage führen. Hier befindet sich die Schieberkammer mit den Grundablässen. 500 000 l Wasser pro Sekunde können bei Hochwasser entlastet werden. Die Funktion der Plattenschieber und der zugehörigen Hydraulikpumpen wird regelmässig überprüft, wie uns die beiden versichern. Bei Hochwasser muss wirklich alles funktionieren.

Johannes Tscharner hebt einen grossen Deckel aus dem Boden der Kammer. Eine Leiter führt senkrecht weitere 9 m in die Tiefe. Es ist stockdunkel, kalt und nass da unten, fast am Grund der Staumauer. Er leuchtet in den Schlund, etwas Wasser rinnt durch die Plattenführungen. «Das muss man immer mal wieder abdichten», erklärt Tscharner. Dann heisst es «ab in den Schacht und nach dem Rechten sehen.» Gesichert mit Helm und Klettergurt, ein zweiter Mann steht am Einstieg. Das ist wichtig für die Sicherheit und wird im Rahmen von Höhentrainings und Sicherheitsschulungen auch immer wieder geübt.

Frische Luft

Der weitere Weg führt zu einer gigantischen Lüftungsanlage. Auch für deren Wartung sind die beiden in Bärenburg verantwortlich. Die Anlage ist für die Belüftung und Entfeuchtung der Staumauer wichtig. «Für uns ist sie lebensnotwendig, denn sie sorgt für Frischluft für die Menschen, die in der Mauer arbeiten», erklärt uns Romano Baptista. Dabei erfahren wir, dass Bärenburg eine von nur zwei Anlagen in der Schweiz ist, bei der das gesamte Kraftwerk in der Staumauer verbaut ist. Die 64 m hohe Gewichtsstaumauer trägt auch die gesamte Freiluftschaltanlage. 55 000 m3 Beton wurden bei deren Bau 1960 gebraucht. Ohne Lüftung wäre es hier drinnen wohl ziemlich kalt und stickig.

Sicher, auf den Mikrometer genau

Über verwinkelte Gänge und Treppen gelangen wir in Stollen, die die gesamte Staumauer durchziehen. Wir kommen an dutzenden von Messpunkten vorbei. Als Talsperrenverantwortlicher kontrolliert und dokumentiert Johannes Tscharner in vorgeschriebenen Intervallen verschiedene Parameter wie Auftriebs- und Sickerwassermengen, er misst die Fugenspalte und eventuelle Bewegungen der Staumauer. In Bärenburg liegen diese im Millimeterbereich. Wir werden beruhigt: «Alles völlig in Ordnung.» Da draussen drücken mehr als eine Million Kubikmeter Wasser gegen die Mauer. Irgendwie doch ein eigenartiges Gefühl hier unten.

Mächtige Turbinen

Später werfen wir einen Blick in die Dotieranlage. Um die vielfältigen Funktionen des Fliessgewässers für Flora und Fauna zu erhalten, wird von Stauseen stets eine vorgeschriebene Wassermenge abgelassen – das sogenannte Dotierwasser. Auch dieses wird in Bärenburg turbiniert. Mit dem Lift nach oben, einige Gänge weiter kommen wir im eigentlichen Turbinenraum an. Auf dem Weg fragen wir uns, wie man sich in diesem Dickicht von Stockwerken, Treppen, Gängen und Stollen überhaupt je zurechtfinden kann.

Bei den Turbinen ist es ziemlich laut. Vier riesige, leuchtendgrün gestrichene Francis-Turbinen leisten hier ihre Arbeit. Sie treiben zwei Stockwerke über uns Generatoren mit einer Gesamtleistung von 220 MW an. Viele Instandhaltungsarbeiten müssen neben dem Lärm der laufenden Maschinen durchgeführt werden. Dabei kann man sich nur schwer verständigen. Deshalb ist es absolut notwendig, dass das Team gut eingespielt ist und jeder auf den anderen achtet. Auch das ist eine wichtige Sicherheitsregel.

Digitalisierung auch hier

Wir kommen am Kommandoraum vorbei. Der ist längst nicht mehr besetzt, denn die Anlage in Bärenburg wird mittlerweile von der Zentrale in Sils überwacht, der Turbineneinsatz direkt entsprechend dem Bedarf am Strommarkt von AXPO in Baden ferngesteuert. Das hat auch den Arbeitsalltag von Johannes Tscharner und Romano Baptista verändert. Bärenburg ist nicht mehr rund um die Uhr besetzt. Den klassischen Schichtbetrieb, wie zu Zeiten von Baptistas Vater, gibt es nicht mehr.

Überhaupt hat sich in den letzten Jahren vieles verändert. So werden wohl Zug um Zug auch die Klemmbretter der Wartungsmannschaft durch Tablets ersetzt, Arbeitsaufträge und Wartungsintervalle sind inzwischen digital erfasst und den Mitarbeitern zugeteilt. Die durchgeführten Arbeiten werden online dokumentiert und ins System übertragen. «Das ist auf den ersten Blick einigermassen aufwändig, aber absolut notwendig, um den Betrieb der Anlage auf höchstem Sicherheitsniveau zu gewährleisten», bestätigt Romano Baptista. Wir werfen gemeinsam einen Blick auf Checklisten und ins System. Da kommt schon ganz schön was zusammen.

Traumjob für Allrounder

«Zu tun haben wir genug», sagt Johannes Tscharner am Ende unseres Rundgangs und schmunzelt. Gemeinsam gehen wir hinaus ins Freie und geniessen den Ausblick. Da entdecken wir eine Seilbahn. Sie führt ins knapp 300 m höher gelegene Wasserschloss. Auch die Bahn gehört zur Anlage in Bärenburg und fällt in den Verantwortungsbereich der beiden: «Das Schöne ist, dass wir sowohl drinnen als auch draussen arbeiten, denn wir erledigen eigentlich alle für die Instandhaltung der Anlage notwendigen Aufgaben selbst.» Dazu gehört auch mal Bäume zu fällen und Stauden zurückzuschneiden, das Schwemmholz aus dem See zu fischen, den Rasen zu mähen und im Winter die Schneeräumung. Und was an Handwerk innerhalb der Anlage anfällt sowieso. Arbeit für echte Allrounder eben.

Respekt

Als wir uns auf den Heimweg machen scheint die Sonne in Bärenburg. In der Schaltanlage sirrt es immer noch, aber anders. Oder ist es das Dröhnen der Turbinen, das wir im Ohr haben? Schwer zu sagen, aber wir sind uns einig: So ein Wasserkraftwerk ist wirklich faszinierend. Wir haben viel gelernt und grossen Respekt vor der verantwortungsvollen Arbeit, die hier geleistet wird.