transfer Ausgabe 01 | 2016

Flexible Netzstrukturen

Wege für die zukünftige Stromversorgung

Wie, wo und wann – das sind die Faktoren, die in Zukunft massgeblich den Wert der Energie, genauer gesagt des Stroms, bestimmen. Dr. Rainer Bacher beschäftigt sich unter anderem mit strategischen, technischen, politischen und juristischen Fragen in Zusammenhang mit Netzen sowie zukünftigen Stromerzeugungs- und Verbrauchsszenarien. Für ihn steht fest, dass dafür nicht nur neue Technologien relevant sind, sondern vor allem ein neues Marktkonzept benötigt wird, das die neuen Wertigkeiten der Stromerzeuger und von Speichern berücksichtigt.

Dr. Rainer Bacher ist Geschäftsführer der Bacher Energie AG und externer Dozent des Power Systems Laboratory der ETH Zürich, wo er sich unter anderem mit dem Thema der Deregulierung von Netzsystemen auseinandersetzt.

Herr Dr. Bacher, die heutige EVU-Landschaft gleicht einem ‹Flickenteppich›. Welche Tendenzen sind spürbar und wie werden sich die Versorgungsgebiete zukünftig entwickeln?

In der Schweiz gibt es ja sehr viele kleine Energieversorgungsunternehmen – also viele Flicken. Der Strommarkt ist liberalisiert und man kauft da, wo es am günstigsten oder das Produkt am besten ist. Es könnte eine Art Wettbewerb der Energiestandorte werden. Welche Ressourcen sind wo verfügbar, gibt es da viel Wind, viele Sonnenstunden oder die Möglichkeit der Wasserkraftnutzung? Eine weitere wichtige Frage ist, wie gross das jeweilige Verbrauchergebiet geografisch gesehen ist, das in sich eine ununterbrochene und unabhängige Stromversorgung anbietet. Man spricht ja häufig von zentraler und dezentraler Stromerzeugung, wobei ich diese Bezeichnungen nicht ganz richtig finde. Eigentlich geht es um Distanzen und Abhängigkeiten zwischen Erzeugern und Verbrauchern. Je nachdem, werden verschiedene Welten entstehen.

Wie könnten diese «Welten» Ihrer Meinung nach denn aussehen?

Das hängt einerseits vom Standort und andererseits von der Gesellschaft und der Politik ab. Ein Gebiet ist überregional und deckt ganz Norddeutschland ab, ein anderes ist regional oder gemeindeorientiert, weil dort beispielsweise viel Strom­erzeugung aus Sonne möglich ist. Gebiete zeichnen sich durch eine ausgeglichene Bilanz zwischen Stromerzeugung und -verbrauch aus. Dann stellt sich die Frage, wie diese einzelnen Gebiete miteinander verbunden werden, sodass das eine Gebiet zum richtigen Zeitpunkt auf die ‹guten› Energien in anderen zugreifen kann. Wenn das Stromnetz der Zukunft auf die erneuerbaren Energien setzt, muss ein dezentral organisierter Markt dem gegenüber gesetzt werden, mit regionalen Preisdifferenzen bei Netzengpässen. Es kann fast nicht sein, dass in Zukunft jeder in Europa den gleichen Preis für erneuerbaren Strom zahlt. Das war aber die Idee des grosseuropäischen Markts mit der Kupferplatte im Hintergrund. Das ändert sich: Die Versorgungsstrukturen, Automationsmechanismen, aber auch die Regeln für die einzelnen Konsumenten, die in einem Gebiet Strom konsumieren und erzeugen, werden nicht überall gleich aussehen.

Welche Änderungen, vor allem in der Netzinfrastruktur sind für ein derartiges System notwendig?

Für die Stromerzeugung aus erneuerbarer Energie brauchen wir neue Technologien. Dafür bedarf es wieder neuer Steuerungen und vor allem neuer Verbraucher, die man zeitlich verschieben kann – und das sind die Speicher. Je grösser die Erzeuger sind, desto grössere Speicher werden benötigt. Umgekehrt: Je kleiner die Erzeuger werden, desto verteilter und kleiner können die einzelnen Speicher sein. Wenn wir sehr grosse Mengen dezentraler Energie fördern, ohne dass genügend ausgleichende Speicher vorhanden oder diese noch zu teuer sind, müssten wir das Netz auf allen Ebenen ausbauen. Das kann zu teuer werden. Es wäre zu überlegen, Anreize zu schaffen, um den Speichereinsatz voranzutreiben. Wenn Speicher schneller verfügbar wären, hätten wir einige netztechnische Probleme weniger, die bei einem rasanten Anstieg der Einspeisung durch viele erneuerbare Energien entstehen. Zudem halte ich einen Wettbewerb zwischen den Kapazitäten – also den Versorgungsnetzen, den Speichern und dem Zu- und Wegschalten von sonst unflexiblen Stromerzeugern – für sinnvoll und wohl auch notwendig. Ich bezeichne das als gesteuerte Flexibilität. Die Rahmenbedingungen dafür müssen aber gesetzlich noch festgelegt werden.

«Wieviel ist der und die Einzelne bereit, für die richtige Balance zwischen ständiger Versorgungssicherheit über das Netz und Autonomie mit Speichern und Eigenerzeugung zu zahlen?»

Wie sieht und wirkt sich diese gesteuerte Flexibilität aus?

Flexibilität ist all das, was man kurzfristig im Stromsystem aktiv beeinflussen und verändern kann – den Strom- und Energieverbrauch und die Erzeugung. Die Frage ist, wie viel ich als Konsument und Klein­erzeuger in diese gesteuerte Flexibilität investiere, um allenfalls bei den Netzkosten zu sparen. Vom heutigen Strompreis werden fast 50 Prozent für das Netz aufgewendet. Auch zukünftig wird jeder ein Stromsystem haben wollen, das stabil ist. Und hier stellt sich die eigentliche Frage: Wieviel ist der und die Einzelne bereit, für die richtige Balance zwischen ständiger Versorgungssicherheit über das Netz und Autonomie mit Speichern und Eigenerzeugung zu zahlen?   Durch Technik lässt sich der Grad der Autonomie festlegen, die politische Implementation wird aber viel schwieriger. Wie realisiert man Autonomie und was kostet sie? Mit einem eigenen Batteriespeicher kann ich beispielsweise eine Zeit lang autonom sein. Wenn der Speicher aber aufgebraucht ist, müsste ich ohne Netzverbindung notfalls eine Weile auf den Strom verzichten. Man müsste also eher über die Befindlichkeiten reden, die eintreten, wenn die Stromversorgung nicht mehr auf dem gewohnten Qualitätsniveau funktioniert, welche Absicherungen dann nötig oder gewünscht wären und wieviel sie kosten.

Wie könnte diese Absicherung aussehen?

Das hängt davon ab, wie der Worst-Case aussieht, den wir einkalkulieren wollen. Wenn es ungeplante Wetterereignisse gibt, müsste man unter Umständen eine Weile auf den gewohnten Komfort verzichten. Da das in der heutigen Gesellschaft aber kaum denkbar ist, müsste man über eine Art Versicherung nachdenken: Der Anschluss zum Stromnetz war bisher zwingend notwendig. In der Zukunft könnte ein kostengünstiges Versicherungs-Stromnetz allenfalls nur denen zugutekommen, die eben diese Versicherung bezahlen. Aber es wird neue technische Möglichkeiten einer Versicherung geben, z.B. eine in Echtzeit zuschaltbare Notfall-Leitung in ein Nachbar-Gebiet mit genügend Eigenerzeugung oder ein eigenes – auch allenfalls fossiles – Kraftwerk mit genügend gespeicherter Primärenergie, aber nur für Notfälle.

Angenommen, die Umstellung auf das neue Energiesystem wird fix beschlossen, wie sähe die Übergangszeit aus?

Die Verteilnetze haben glücklicherweise noch einige Kapazitätsreserven. Mit gut gesteuerter Intelligenz, also den Smart Grids, ist da vieles möglich, bevor die Netze grossräumig überlastet sind. Man bräuchte aber verschiedene neue Steuer-Ebenen: Für die kleinen Verbraucher eine dezentral-hierarchisch organisierte und darüber eine europaweit koordinierte für die grossen Verbraucher und Erzeuger. Das Ziel sollte sein, Energiemengen über eine bestimmte – auch kurze Zeit – so günstig wie möglich zu verteilen. Dafür sind die erwähnten Speicher notwendig. Die sind derzeit zwar noch etwas zu teuer, aber das wird sich noch ändern. Es ist zudem notwendig, frühzeitig in neue transeuropäische HVDC-Netze zu investieren. Wer frühzeitig Querschnitte an Übertragungsleitungen besitzt, wird sie – im Notfall – auch eher vor den anderen nutzen können. Heute funktioniert das noch nicht gut: Die Konsumenten jedes Landes zahlen nur für das eigene, nationale und regionale Netz. Wenn man z.B. erneuerbare Wind-Grosskraftwerke aber optimal gemeinsam nutzen will, sollten die HVDC-Netze mit neuen europaweiten Regeln bezahlt werden. Um auf den Flickenteppich zurückzukommen: Dieses alles überlagernde HVDC-Netz darf nicht aus Flicken zusammengesetzt sein. ‹Unten› beim Konsumenten ist eine heterogene Organisation aber durchaus möglich.

Wie viel Heterogenität muss und darf denn sein, damit das Ganze funktioniert?

Einen einzigen passenden Regelsatz zu finden, halte ich für unmöglich und auch nicht nötig. In der Zukunft wird die bisherige Regel von solidarisch getragenen Netzkosten schwieriger anzuwenden sein, da die Deckung der regionalen Kosten von Netz, Erzeugung, Versorgungssicherheit und für die Absicherung bei Notfällen auch eher regional übernommen werden müssten. Das könnte zu einer anderen Art der Netzregulierung im Vergleich mit heute führen. Es geht um eine neue Solidarisierung der Kosten und Preise von Netzen, Speichern und Erzeugung und für deren aktive Steuerung. Wer soll wofür zahlen? Erfolgt die Regulierung über Gesetze oder über Marktmechanismen? Um wieviel darf regional bezogener Strom inklusive Netzkosten teurer sein als solcher, der über die HVDC-Netze, z.B. aus Wind-Grosskraftwerken in Norddeutschland, kommt? Allerdings besteht in der Bevölkerung derzeit noch wenig Bewusstsein für diese Themen.

«Wir brauchen ein Marktkonzept, das nicht nur auf den Energiekauf fokussiert ist, sondern neue Wertigkeiten der Stromerzeuger und von Speichern berücksichtigt.»

Was wäre notwendig, um das Bewusstsein für diese Themen zu wecken?

Man müsste schnell die reale Energieumgebung zu einer Art Laboratorium verändern, damit die Konsumenten spielerisch mit den neuen Möglichkeiten umgehen lernen. Die Möglichkeit des Selbstlernens scheint mir hier sehr wichtig. Heute fragen sich die wenigsten Bürger, warum das Stromsystem so gut funktioniert. Typische Laborversuche wären: Wie verbrauche und erzeuge ich Strom? Welcher Typ von Verbraucher und wie flexibel bin ich? Auf wieviel Komfort könnte ich verzichten und unter welchen Umständen? Wie kann der positive Effekt von Strom – Licht, Wärme, Bewegung, Wissen, etc. – in neue Dienstleistungspakete eingepackt werden? Technisch liessen sich die Setups für solche Versuche recht schnell umsetzen, der Prozess dahin und der Business-Case sind allerdings schwierig. Wir brauchen ein neues Marktkonzept, das nicht nur auf den Energiekauf – in kWh – fokussiert ist, sondern neue Wertigkeiten der Stromerzeuger und von Speichern berücksichtigt. Zum Beispiel durch eine bezahlte Bereitschaft, den Stromkonsum schneller als normal zu ändern, allenfalls die eigene PV-Anlage auch am Mittag bei voller Sonne teilweise abzuschalten.

Wenn jeder Bürger solche Wertbeiträge erbringen könnte, wird sich der Umgang mit Energie und Leistung in Richtung Dienstleistung ändern. Diese in Zukunft massenhaft umzusetzenden Möglichkeiten fehlen aber noch. Wer mitgestalten will, muss investieren und dann profitieren können und die Veränderung als Chance ansehen. Wir kommen nicht um eine weitere Demokratisierung der Energiewelt herum. Der Bürger muss schliesslich darüber entscheiden, wie der zukünftige Weg aussehen soll.

Ist eine einheitliche Lösung überhaupt machbar?

Das halte ich für unwahrscheinlich und auch nicht für zielführend. Es wird verschiedene Communities geben und brauchen. Man kann und darf nicht jeden in den Markt zwingen. Da sind wir auch wieder beim Punkt der Eigenverantwortung versus Solidarisierung: Beide haben Grenzen.

Vielen Dank für das Gespräch.