transfer Ausgabe 02 | 2017

Fachgerechter Betrieb

Zielorientierung am naturnahen Gewässer

Die gesamtheitliche Bewirtschaftung der Entwässerungssysteme mit dem Blick über das einzelne Objekt hinaus ist eine grosse Herausforderung. Aus einer Gesamtsystembetrachtung würden sich jedoch (auch) für den Gewässerschutz neue Chancen ergeben. Wir haben mit Hans Balmer, Gewässerschutzinspektor im Amt für Abfall, Wasser, Energie und Luft (AWEL) des Kantons Zürich über seine Einschätzung hierzu gesprochen.

Herr Balmer, der Übergang von einer emissionsorientierten hin zu einer immissionsorientierten Bewirtschaftung entspricht im Grunde einem Paradigmenwechsel. Wie sehen Sie dies?

Ich denke nicht, dass wir hierbei von einem Paradigmenwechsel sprechen sollten. Wir haben schon immer Emission und Immission gemeinsam betrachtet. Nicht umsonst ist in unserer Gewässerschutzgesetzgebung ein klares Ziel definiert: Das ‹naturnahe Gewässer›. Damit können wir nicht einfach alles nur an einem Einleitgrenzwert zu einer bestimmten Fracht festmachen. Das muss man aus verschiedenen Blickwinkeln betrachten. Und deshalb plädiere ich eher für eine Formulierung ‹von der Einzelobjektbetrachtung hin zur Systembetrachtung›. Damit habe ich Emissionen, Immissionen und eben immer den Zielzustand klar vor Augen.

«Ziel muss es sein, in der Abwasserbewirtschaftung sich von der Einzelobjektbetrachtung hin zur Systembetrachtung zu entwickeln.»

Aber wie lassen sich diese Zielgrössen dann präzise beschreiben?

Natürlich muss das geklärte Abwasser, welches aus der ARA eingeleitet wird, Emissionsgrenzwerte einhalten. Und eine Immissionsbegrenzung gibt es ebenso, sprich: im Bach darf eine bestimmte Konzentration an Schmutzstoffen nicht überschritten werden. Das kann natürlich auch dazu führen, dass man den Emissionswert verschärfen muss, um die Immissionsgrenzwerte einzuhalten. Das ist die ‹klassische Optik›, würde ich sagen. Und mit der peinlich genauen Überprüfung in der ARA machbar. Nur: Es fliessen ja genauso Mischabwasser via Regenüberläufe und Regenbecken und mehr oder weniger stark belastetes Wasser aus Regenabwassereinleitungen des Siedlungsgebiets sowie aus landwirtschaftlichen Drainagen ins Gewässer. Und dazu gibt es keine präzisen Richtwerte. Letztlich, weil man direkt an der einzelnen Einleitstelle relativ wenig Einfluss feststellen kann.

Und es ist auch so, dass das Gesamtergebnis sehr stark vom Gewässer selbst abhängig ist. Würde ich alleine die Immission betrachten, dann würde das bedeuten, dass man einfach genügend grosse und damit genügend robuste Gewässer sucht, in die man deutlich mehr einleiten könnte. Aber das darf nicht das Ziel sein, denn es geht ja letztendlich um die Prävention. Das Ziel muss immer heissen, möglichst wenig einzuleiten. Egal wo.

Das heisst, die Festlegung von starren Grenzwerten für den Betrieb von Regenbecken ist nicht zielführend?

Das würde ich so nicht sagen. Was wir im Moment gerade im Verband Schweizer Abwasser- und Gewässerschutzfachleute VSA besprechen, ist eine Frachtbetrachtung sowohl am einzelnen Entlastungsbauwerk als auch im Gewässerabschnitt, in den mehrere Mischabwasserentlastungen erfolgen. Solche Gesamtbetrachtungen werden idealerweise im Rahmen des generellen Entwässerungsplans (GEP) erarbeitet. Also nicht nur die Menge zu klärendes und abzuleitendes Abwasser, sondern die enthaltenen Verschmutzungsfrachten, einschliesslich der Mikroverunreinigungen, zu beschreiben.

Auf die Mischabwassereinleitungen bezogen sollen nun in der VSA-Richtlinie ‹Abwasserbewirtschaftung bei Regenwetter›*, Mindestanforderungen an die Emissionen festgeschrieben werden: Die Entlastung ins Gewässer soll auf maximal 2 Prozent des im Schmutzabwasser enthaltenen Ammoniums bzw. auf maximal 1,5 Prozent der gesamten ungelösten Stoffe (GUS) begrenzt werden. Hinzu kommt eine vereinfachte Beurteilung bzw. Begrenzung der Immissionen, indem die Entlastungsfracht in Bezug zum mittleren Abfluss des Gewässers betrachtet wird. Diese überarbeitete Richtlinie wird voraussichtlich 2018 erscheinen.

«In der derzeit im Entwurf vorliegenden neuen VSA-Richtlinie ‹Abwasserbewirtschaftung bei Regenwetter› werden bei Mischabwasserentlastungen neu nicht nur Abwassermengen, sondern auch Stofffrachten betrachtet.»

Wo liegen die Herausforderungen in der Umsetzung davon?

Die grosse Unbekannte, die in den letzten Jahren immer wieder diskutiert wurde, ist die Systembetrachtung der Abwassereinleitung. Da geht es dann bspw. um eine Optimierung der Regenbeckenbewirtschaftung. Aber oft ist es ja zunächst sogar noch so, dass die einzelnen Gemeinden zwar Regenbecken haben, aber über deren Funktionsweise und Entlastungverhalten keine Daten vorliegen. Nur selten gibt es eine Niveaumessung im Becken, und noch seltener wird die Weiterleitmenge zur ARA überwacht. Nur: Wenn man darüber nachdenkt, Beckenvolumina zu erhöhen, dann ist eine Kenntnis der Zusammenhänge von Beckenvolumen und Weiterleitmenge aus dem Regenbecken wichtig. Manchmal könnte es schon ausreichen, anstelle einer in der Regel sehr teuren Vergrösserung des Beckenvolumens die Abflussmenge zu erhöhen und das gesparte Geld mit einer höheren Gewässerschutzwirkung in die Systemoptimierung und/oder in die Gewässerrevitalisierung zu investieren.

Und was ich praktisch nie antreffe, ist eine Signalisierung im Leitsystem der Kläranlage, bspw. bei kritischen Füllständen der Becken. So weiss der Betreiber oft gar nicht, dass seine Anlage nicht ordnungsgemäss funktioniert. Da kommt es schon mal vor, dass ein verstopftes Regenbecken während einer Trockenperiode 14 Tage lang voll ist und das Schmutzabwasser in den Bach überläuft, ohne dass es jemand merkt. Und das kann und darf doch eigentlich nicht sein! Im Vergleich zu den Gesamtinvestitionskosten eines Regenbeckens sind die Installation einer Wasserstandsmessung und die Übertragung der Messsignale auf das Leitsystem der Kläranlage fast vernachlässigbar.

Art. 13 GSchG ‹Fachgerechter Betrieb› schreibt dies eigentlich schon seit 20 Jahren vor: ‹Die Inhaber von Abwasseranlagen (…) müssen beim Betrieb alle verhältnismässigen Massnahmen ergreifen, die zur Verminderung der Mengen der abzuleitenden Stoffe beitragen.› Das ist eine Vorsorgemassnahme. Oder im Umkehrschluss: wenn ein Regenbecken nicht funktioniert – dann ist dies kein fachgerechter Betrieb.

Mit der Minimalausstattung ‹Niveaumessung› wäre man da schon einen grossen Schritt weiter. Diese Sensibilität muss man aber oft erst wecken. Und mitunter ist gerade dies eine Herausforderung, nur schon, weil die Bewirtschaftung der Regenbecken von einer anderen Stelle (meist von den Gemeinden) verantwortet wird als der Betrieb der Kläranlage (meist vom Abwasserverband). Und meistens stehen nur die Kläranlagen im öffentlichen Fokus und nicht die unter dem Boden liegenden Kanalisationen und Regenbecken.

Wie könnten also die Betreiber in Zukunft mit ihren Systemen wirkungsvoller und erst noch kostengünstiger Gewässerschutz betreiben?

An erster Stelle wird stehen, das gesamte System aus Einzugsgebiet, Kanalisation, Regenbecken, Kläranlage und Gewässer zu verstehen und dabei eine noch intensivere Zusammenarbeit der Beteiligten zu suchen – und zwar bis und mit der Planung der Liegenschaftsentwässerung. Das sehe ich als eine unserer Aufgaben im Amt, alle Beteiligten zusammenzubringen. Nur ein Beispiel dazu: Regenbecken gehören häufig einzelnen, verschiedenen Gemeinden, die ARA einem Verband. Da erlebe ich dann sogar die Situation, dass eine angeschlossene Gemeinde stolz darauf ist, dass ihr Regenbecken nie überläuft, in der anderen Gemeinde aber das Regenbecken sehr oft Mischabwasser in den Bach entlastet. Das liesse sich mitunter mit einer abgestimmten Abflussregelung lösen: die eine Weiterleitmenge wird etwas reduziert und die andere etwas erhöht. So wird die bereits vorhandene Infrastruktur optimal ausgenutzt, ohne dass man Kapazität zubauen muss. Aber man muss miteinander reden.

Die naheliegendste Motivation hierfür sind im Grunde schon die Kosten: Wenn jeder seine Problemstellung für sich isoliert lösen will, dann wird das in der Regel teurer. Das könnte heissen: Anstelle dessen, dass jede einzelne Gemeinde gemäss kommunalem GEP ihre Regenbecken individuell ausbaut, damit die einzelne Entlastung die Anforderungen erfüllt, finanziert man gemeinsam eine optimierte Lösung im ganzen Einzugsgebiet der ARA, die in aller Regel deutlich günstiger wird.

Kann man über Verordnungen ‹Motivation schaffen›, dass Werk- und Klärmeister miteinander reden?

Die Einleitbedingungen der Kläranlagen in die Gewässer sind gesetzlich geregelt. Die Anforderungen an die Mischabwasserentlastungen werden im Einzelfall durch den Kanton festgelegt. Bisher machte man da meist eine Standardrechnung, das ist nicht so ganz genau: 20 m3 Beckenvolumen pro Hektar abflusswirksamer Fläche, theoretisch 30 Entlastungen pro Jahr. Und das ist dann in Ordnung.

Mit jeder Überarbeitung eines GEP fordern wir nun jedoch seitens des Amtes eine Systembetrachtung. Das hydraulische Niederschlags-Abfluss-Modell soll mit Frachtbetrachtungen gemäss dem Entwurf der VSA-Richtlinie «Abwasserbewirtschaftung bei Regenwetter» ergänzt werden. Unabdingbar ist jedoch, dass nebst den Modellrechnungen ebenso ein Mess- und Regelkonzept für das gesamte Einzugsgebiet erarbeitet wird, damit die Modelle überprüft (kalibriert) und die Erfolge kontrolliert – und im Idealfall auch einmal gefeiert werden können.

Interessant ist in diesem Zusammenhang, und das haben wir mit einer eigenen Studie belegt, dass sich über eine Abwasserbehandlung unter Einbezug von Kanalnetz und Kläranlage Optimierungen erzielen lassen. Da haben wir unter anderem untersucht, wie ist es, wenn man bei Regenwetter die ARA mehr beschickt. Dann hat man weniger Entlastungen in den Regenbecken, aber damit etwas mehr die ARA belastet. Es hat sich jedoch gezeigt, dass gut eingestellt, und trotz geringerer Verweilzeit in der ARA, die Gesamtemissionen eher geringer werden.

Und last but not least: Ganz unbenommen davon steht im GSchG, Art. 10: ‹Die Kantone (…) sorgen für einen wirtschaftlichen Betrieb der (Abwasser-)Anlagen.› Also hat im Grunde genommen der Kanton gewissermassen eine Aufsichtspflicht, die Gemeinden vor einer Fehlinvestition zu bewahren.

Aber die Kosten sind im Grunde nur die eine Seite der Medaille. Es geht uns überdies um die Sensibilisierung der Beteiligten, dass sie die Zusammenhänge im System der Abwassereinleitung in die Gewässer besser verstehen, dass sie erkennen, was in den Gewässern lebt.

Worin sehen Sie die grossen Chancen der systemischen Betrachtung?

Die Betrachtung ‹welche Massnahme hat welche Wirkung?›, lohnt sich immer. Und da ist ein Systemmodell, das aufzeigt, wo es welche Stellgrössen gibt, eben genau richtig. So kann ich gemessen an den Zielen die wirksamste Massnahme wählen. Wenn ich mich bspw. am Ziel orientiere, die Frachten aus Mischabwasserentlastungen zu reduzieren, dann kann ich dies über verschiedene Massnahmen beeinflussen: Man kann das Regenbecken vergrössern, oder die Weiterleitmenge temporär erhöhen, oder das Fremdwasser reduzieren, oder die Versickerung und damit eine Reduktion der abflusswirksamen Fläche fördern. Mit Softwarewerkzeugen – die teilweise sogar kostenlos zur Verfügung stehen – lassen sich die Wirkungen aller Massnahmen in einem Modell simulieren und so die Investitions- und Betriebskosten optimieren.

Wenn der Betreiber dann noch eine geeignete Messtechnik installiert, so erhält er reale Werte, mit denen das theoretische Modell, welches beim Bau des Regenbeckens angewandt wurde, angepasst werden kann. Jedes Modell ist mit Unsicherheiten behaftet, deshalb hilft Messtechnik eben nicht nur zur Überwachung, sondern ebenfalls zur Verifizierung des Modells. Und das kostet nicht viel.

Zusammengefasst: Wie sieht Ihr Ausblick aus?

Es ist sicher eine realistische Zukunftsvision, dass man mehr Daten ins System bringt, diese über geeignete Softwarelösungen auswerten kann und so zu einer Gesamtverbesserung beiträgt. Natürlich ist es wichtig, dass man Daten erfasst, aber diese müssen zugleich zugeordnet werden können. Nur so ist auch eine Plausibilitätsbetrachtung möglich: War das ein Messfehler, ein Sensordefekt, oder ist der Wert plausibel? Da sind schliesslich geeignete Produkte der Hersteller gefragt.

Ich denke, dass bei allen technischen Lösungen, die definitiv zu unterstützen sind, man genauso auf die Förderung des Lebensraums schaut. Ich möchte nochmals betonen, Ziel sind naturnahe Lebensräume und Lebensgemeinschaften in den Bächen und eine optimale Bewirtschaftung der vorhandenen Anlagen. Das insgesamt sehe ich als ‹fachgerechten Betrieb›. Nicht zu vergessen sind jedoch ebenso Massnahmen an der Quelle: Soweit möglich sollten in Siedlung und Landwirtschaft nur Stoffe eingesetzt werden, welche die Gewässer und die Umwelt nicht schädigen.

Was definitiv in die gesamtschweizerischen Richtlinien aufgenommen wird, ist die Betrachtung der Frachten. Und die Forderung nach einer minimalen Ausstattung der Anlagen mit Messtechnik. Im Vordergrund muss der Vorsorgegedanke stehen. Und dazu alles Verhältnismässige zu tun, und nicht nur die Minimalanforderungen zu erfüllen.

Glücklicherweise müssen in den kommenden Jahren viele Gemeinden und Abwasserverbände ihren GEP überarbeiten. Da haben wir die Chance, mit allen Beteiligten in persönlichen Kontakt zu kommen, Empfehlungen auszusprechen und das Verständnis oder vielleicht sogar Begeisterung für die moderne Systembetrachtung zu wecken. Ich denke, das ist wirksamer als zu versuchen, das in Normen abzufordern.

Oder vielleicht anders formuliert: Gemeinsam einen Weg von der Normenorientierung hin zur Zielorientierung am ‹naturnahen Gewässer› zu beschreiten.

Herr Balmer, herzlichen Dank für das Gespräch.

 

Dieser Beitrag ist Teil der Interviewreihe «Das gute Gewässer – Handlungsoptionen und Zukunftsgedanken». In diesem Rahmen haben wir uns auch mit Christian Güdel, Leiter des Bereichs Infrastruktur der Stadtentwässerung Winterthur, und Dr. Markus Gresch, Umweltingenieur und Mitglied der Geschäftsleitung der Hunziker Betatech AG, unterhalten.

Das Interview mit Christian Güdel lesen Sie hier.
Das Interview mit Dr. Markus Gresch lesen Sie hier.

 

* Die bisherige VSA Richtlinie ‹Regenwasserentsorgung› (Richtlinie zur Versickerung, Retention und Ableitung von Niederschlagswasser in Siedlungsgebieten, 2002, aktualisiert 2008), die VSA ‹STORM-Richtlinie› (Abwassereinleitungen in Gewässer bei Regenwetter STORM, 2007), die BAFU Wegleitung ‹Gewässerschutz bei der Entwässerung von Verkehrswegen› (2002) sowie einige weitere Publikationen des VSA und des BAFU zum Thema werden derzeit als neue VSA Richtlinie ‹Abwasserbewirtschaftung bei Regenwetter› zusammengefasst und aktualisiert.