transfer Ausgabe 01 | 2020

Die Antwort ist flexibel

Intelligentes Energiemanagement beim Stromversorger

Der Stromhandel für Schweizer Energieversorger wird anspruchsvoller: Der Anteil erneuerbarer Energien am Produktionsmix nimmt zu, elektrische Wärmeerzeugung und Elektromobilität dringen weiter vor. Dadurch müssen volatilere Strommengen im Netz beherrscht werden. Wie können wirtschaftliche Lösungen für möglichst zuverlässige Prognosen zur gezielten Steuerung des Bedarfs aussehen, ohne dabei die Versorgungssicherheit zu beeinträchtigen? Mit einem Pilotprojekt sucht Stadtwerk Winterthur nach Antworten.

Stadtwerk Winterthur (STW) vereint die Versorgung mit Elektrizität, Gas, Wasser und Fernwärme, den Betrieb eines Glasfasernetzes, Energiedienstleistungen, die Abwasserreinigung sowie eine energetische Abfallverwertung. Seit 2014 beschafft STW den Strom zudem selbst am Markt.

Als Energiewirtschafterin arbeitet Irene Steimen im Spannungsfeld zwischen Versorgungssicherheit, energiepolitischen Zielen und Wirtschaftlichkeit. Sie zieht auf Basis von Modellen Schlüsse, um die richtige Menge Strom zum optimalen Zeitpunkt einzukaufen.

Wege der Beschaffung

STW verfolgt das Ziel, den Anteil erneuerbarer Energien am gelieferten Strommix zu vergrössern. «Im Vergleich zu vielen anderen Elektrizitätswerken verfügen wir jedoch über keine direkten Beteiligungen an Wasserkraftwerken», beschreibt die Energiewirtschafterin die Situation von STW. Deshalb schloss STW mit der Azienda Elettrica Ticinese (AET) im Tessin einen langfristigen Vertrag über den Bezug von Strom aus Wasserkraft im Umfang von 50 GWh pro Jahr ab.

Hinzu kommt die Erzeugung von Photovoltaikanlagen (PV) und der eigenen Kehrichtverwertungsanlage (KVA). Beide sind für STW langfristig relativ gut planbar: Die KVA läuft nahezu ständig auf Volllast, der Jahresverlauf der PV-Anlagen ist relativ gut bekannt.

Den restlichen Teil des Stroms kauft STW am Markt unter Berücksichtigung der aktuellen Strompreise, grösstenteils direkt von Schweizer Versorgern mit eigenen Kraftwerken. Zur Risikoabsicherung handelt STW zusätzlich am liquideren, deutschen Markt. Parallel erwirbt das Energieversorgungsunternehmen Zertifikate zum Herkunftsnachweis des bezogenen Stroms, darunter von privaten PV-Anlagen der Stadt: «In Winterthur entspricht dies dem politischen Willen, und ist für die PV-Besitzer wirklich attraktiv», sagt Steimen.

Prognosen und ihre Genauigkeit

Der Bedarf, mit einem kürzeren Zeithorizont Strom zu handeln, nimmt allerdings zu. «Bei uns gibt es noch viele unbebaute Dächer. Das ist ein hohes Potenzial, das wir mit PV-Anlagen nutzen möchten», beschreibt Steimen die Pläne von STW, und erklärt weiter: «Da Erneuerbare allerdings wetterabhängig produzieren, wird das zunehmend zur Herausforderung für uns.» Exakte Prognosen gestalten sich durch unerwartete Wetteränderungen schwieriger, der kurzfristige Handel wird wichtiger werden.

«Eine Prognose ist eben eine Prognose, und deshalb per se falsch – die Frage ist nur, wie sehr.»

Am kurzfristigen Handel beteiligt sich STW jedoch noch kaum. Heute ist es einer Bilanzgruppe zugeteilt, in die es laufend für die unmittelbar folgenden Tage eine Stromprognose einreichen muss. Das Ziel dabei: Den Strombedarf so exakt als möglich zu prognostizieren, um teure Ausgleichszahlungen für Abweichungen der Prognose zu minimieren.

«Je besser die Prognose, desto günstiger die Beschaffung.»

Ein Pilotprojekt mit Vorbildwirkung

«Es wäre schon absurd, wenn man bei sinkendem Bedarf die eigenen PV-Anlagen vom Netz nehmen müsste, um keine Ausgleichsenergie bezahlen zu müssen», findet Irene Steimen. Wenn von der Sonne kostenloser Strom produziert wird, müsse man doch einen Weg finden, diesen zu verbrauchen, ist die Energiewirtschafterin überzeugt.

In ihrer Masterarbeit untersuchte sie deshalb unter anderem Potenziale im Handel und in der Netzbewirtschaftung unter der Nutzung von dezentralen Flexibilitäten. Die Ergebnisse der Arbeit dienen als Basis für ein Pilotprojekt bei STW. Der Ansatz: Flexibel bedienbare Lasten werden als kollektive Regelgrösse genutzt – im Fall von STW die zahlreich verfügbaren Wärmepumpen und Elektroboiler der Kunden. «Abweichungen sind teuer. Und da STW diese nicht durch eigene Wasserkraftwerke ausgleichen kann, entstand die Idee, die Assets unserer Kunden wie ein virtuelles Kraftwerk zu bewirtschaften», erklärt Steimen das Vorhaben des Versorgers.

«Die Nutzung von Flexibilitäten im Stromnetz ist marktwirtschaftlich und netzwirtschaftlich interessant – und systemdienlich.»

In einem nächsten Schritt wird STW die Anforderungen an die dazu notwendige Steuerung nun exakt erfassen und in einem Testbetrieb verifizieren. Eine Software soll bei Abweichungen zur Prognose aktiv eingreifen, dabei selbstverständlich den Wärmebedarf der Kunden berücksichtigen, sodass bei diesen keine Komforteinbussen entstehen. «Technisch betrachtet ist das die Weiterentwicklung der Rundsteuerung, für die man ohnehin eine Nachfolgelösung benötigt», gibt die Energiewirtschafterin einen Ausblick auf morgen. Letztlich betreffe dies alle Energieversorger, und mit dem Internet of Things seien dazu zahlreiche Möglichkeiten gegeben.

Zusammenarbeit erwünscht

Seit 2009 ist im Schweizer Stromversorgungsgesetz die Trennung von Netz und Vertrieb verankert. Energieversorger dürfen so nicht mehr gleichzeitig Netzbetreiber sein. Ziel dieser Entflechtung (‹Unbundling›) ist der neutrale Netzbetrieb mit gleichen Voraussetzungen für alle Teilnehmenden. Dies ist eine der Bedingungen für den Abschluss des Stromabkommens mit der EU, die eine vollständige Liberalisierung des Strommarktes verlangt.

Damit wird aber aufgrund der gleichzeitig verlangten ‹informatorischen Trennung› auch ein Informationsfluss zwischen Netz und Vertrieb unterbunden. Was die Optimierung der Energiestrategie anbelangt entstünden daraus gewisse Probleme, so die Expertin: Um die Flexibilitäten im Netz optimal zu nutzen, müssten Netzbetreiber und Versorger zusammenarbeiten können. «Wenn die Realität von den Prognosen abweicht, dann betrifft das den Handel und das Netz. Da müssen wir nun trotz regulatorischer Trennung noch den gemeinsamen Weg finden», erklärt Steimen.

«Wenn wir die Synergien zwischen Netzbetreiber und Handel nutzen, werden wir die Energiewende kosteneffizienter schaffen.»

Herausforderungen für morgen

Auf dem Weg zur vollständigen Liberalisierung des Strommarktes wird es für Versorger zunehmend wichtiger, Strom zu jedem Zeitpunkt möglichst kostenoptimal liefern zu können. Die grösste Herausforderung dabei ist es, die zunehmende Fluktuation der Stromproduktion, bedingt durch den steigenden Anteil der erneuerbaren Energien, geschickt zu beherrschen. Daneben sei aber auch eine effizientere Zählpunktbewirtschaftung als heute erforderlich, meint Irene Steimen: «Im vollständig liberalisierten Markt können Kunden ihren Anbieter frei wählen – und problemlos wechseln. Zählpunktmanagement und Prognosen werden aufwändiger – selbst im heute nur teilliberalisierten Markt weiss der bisherige Versorger in der Regel gar nicht, dass sein Absatz aufgrund eines Anbieterwechsels kleiner ist.»

Im Testbetrieb des Pilotprojekts sollen ausserdem technische Betriebsaspekte untersucht werden. «Die Wärmepumpen, welche wir als steuerbare Lasten verwenden wollen, sind kundenfinanziert.

«Eine grosse Aufgabe wird sein, Akzeptanz zu schaffen, um Kunden-Assets zu steuern.»

Wollen wir künftig eingreifen, müssen die Randbedingungen geklärt sein, damit diese Flexibilitäten nicht negativ beeinträchtigt werden: beispielsweise wie viele Starts individuell erlaubt werden oder wie lang minimale Laufzeiten sind.» Dazu müsse von Anfang an ein Vertrauen bei den Kunden vorhanden sein. Zudem brauche es nach Ansicht der Expertin sicher standardisierte Kommunikationsgeräte, damit die Flexibilitäten einfach angeschlossen werden können sowie Anreize für die Kunden, damit diese ihre Flexibilitäten für die Steuerung zulassen.

Zu klären ist nach Ansicht der Energiewirtschafterin in diesem Zusammenhang die Behandlung von Kunden mit eigenen PV-Anlagen, die maximal vom Eigenverbrauch profitieren möchten. Diese hätten mitunter eine eigene Optimierungsstrategie, was letztlich eine regelungstechnische Herausforderung darstelle.

Trotz einiger Fragen, die es noch zu klären gilt, ist Irene Steimen vom eingeschlagenen Weg von STW überzeugt und blickt zuversichtlich nach vorne: «Wir möchten die Ergebnisse aus dem Pilotprojekt teilen und das Projekt mit anderen Versorgern vorantreiben.»

Bildnachweis: iStock/fishbones (Titelbild)