transfer Ausgabe 01 | 2020

Der Handel im Wandel

Stromversorgung von morgen: Walenstadt macht’s vor

Mit dem Projekt ‹Quartierstrom› entstand in Walenstadt der erste lokale Strommarkt der Schweiz. Im Rahmen eines zunächst befristeten Leuchtturmprojekts des Bundesamts für Energie handelten 37 Haushalte untereinander ihren lokal produzierten Solarstrom. Das Ziel: den eigenen Strom möglichst innerhalb des Quartiers zu verbrauchen. Christian Dürr vom Wasser- und Elektrizitätswerk Walenstadt (WEW) ist überzeugt, dass sich aus diesem Modell für Versorger Chancen entwickeln – wenn man dazu bereit ist, sie zu nutzen.

Die Strommarktöffnung steht vor der Tür. Dessen ist sich Christian Dürr, Geschäftsleiter des WEW, sicher. Da die Kilowattstunde Energie hochspezifiziert ist, könne die Differenzierung nur über den Preis stattfinden. Für Stromversorger ist dieser Markt nicht lukrativ. Dürr war lange in der Industrie beschäftigt. Er ist vertraut mit Kundenbedürfnissen und schlanken Prozessen, Effizienz liegt ihm im Blut. «Seit der Abschaffung der kostendeckenden Einspeisevergütung (KEV) ist der Grundgedanke nicht mehr, den eigenen Solarstrom zu verkaufen, sondern möglichst alles selbst zu nutzen», erklärt er den zündenden Gedanken hinter dem Projekt ‹Quartierstrom›. Das Projekt möchte den Weg von der Produktion zum Verbraucher so weit als möglich verkürzen und so die Kosten für Stromkunden senken.

«Es ist wie in der Industrie: Du kannst ein geniales Produkt haben, welches aber irgendwann wieder zum Ausläufer wird. Du musst dich daher immer wieder neu erfinden. Da musst du immer dranbleiben. Diesen Geist wünsche ich mir vermehrt bei den Elektrizitätswerken.»

Christian Dürr, Dipl. El.-Ing. FH/NDS, Geschäftsleiter, Wasser- und Elektrizitätswerk Walenstadt

Hierzu wurde im Quartier ‹Schwemmiweg› in Walenstadt ein Testmarkt für den lokalen Stromhandel etabliert. Die dort bestehende Infrastruktur ist vollständig im Besitz der Kunden des WEW und eignete sich für den Markt perfekt: An allen Standorten bestand bereits Zugang zu einem Kommunikationsnetz mit entsprechender Bandbreite, auf dem der Handel abgewickelt werden konnte. Die involvierten Kundenanlagen verfügen über eine Gesamtleistung von 290 kWp. Sie liefern jährlich rund 300'000 kWh Strom, der Bedarf im Quartier beträgt etwa 250'000 kWh. «Einzig die Flexibilität fehlte noch. Fünf Eigentümer investierten bereits im Vorfeld in eine Batterie, während des Projekts kamen nochmal vier weitere Speicher dazu», erzählt Dürr. Im Rahmen des Projekts wurden in den teilnehmenden Haushalten insgesamt 75 Messgeräte installiert, die für den Handel nötig waren – je Marktteilnehmer eines für Verbrauch, Produktion und sofern vorhanden die Batterie. Neben den Haushalten nahm das Elektrizitätswerk selbst ebenfalls am lokalen Strommarkt teil. Es kaufte überschüssigen Solarstrom und lieferte Netzstrom, wenn im Quartier zu wenig produziert wurde. Ebenso stellte es die Netzinfrastruktur zwischen den Haushalten zur Verfügung.

 

Risiko? Welches Risiko!

Als Stromversorger freiwillig auf Umsatz durch Stromverkauf zu verzichten, ist ein riskantes Modell. Oder doch nicht?

Die initiale Idee für das ‹Quartierstrom›-Modell entstand aus einem Projekt an der ETH Zürich, das den Mehrwert von lokalen Strommärkten gegenüber heute gängigen Einspeisemodellen untersuchte. Zusammen mit den heutigen Projektpartnern ZHAW und Cleantech21 gingen die Forscher auf das WEW zu. Andere waren skeptisch, Christian Dürr erkannte die Chancen durch einen lokalen Strommarkt jedoch sofort, auch bei zunehmender Verbreitung von Photovoltaik-Anlagen.

«Das derzeitige Zwischendrin ist für niemanden optimal. Entweder wir bleiben im Monopol, dann aber extrem schlank – oder wir machen Markt, wo man als Anbieter stets innovativ und kundenfreundlich sein muss, um zu überleben.»

Rund 150 Solaranlagen, die meisten in privatem Besitz, sind in seiner Versorgungsregion in Betrieb. Viele davon wurden sogar vom WEW installiert. Bei einem Eigenverbrauch von 20% gingen schliesslich immer noch 80% des produzierten Stroms an den Versorger, meint Dürr, und gibt zu bedenken: «Als Installateur bist du beim Kunden im Haus, baust eine gute Beziehung und Vertrauen auf. Das ist hilfreich. Und die Anlage muss ja gewartet werden, irgendwann wird sie neue Paneele benötigen.»

Die Solaranlage sei zudem häufig nur der erste Schritt für weitere Investitionen: Oft folgten Überlegungen über den Ersatz der Ölheizung mit einer Wärmepumpe, Elektromobilität werde attraktiver, Batterien kämen auf den Plan. Die eigene Produktion und diverse elektrische Verbraucher bedürfen mitunter einer Optimierung, so kommen Steuerungen ins Spiel. Auch die Betreuung der dafür notwendigen Messgeräte und die Interpretation deren hoch auflösbarer Daten können für Versorger attraktive Folgegeschäfte sein. «Das zieht eine riesige Wertschöpfungskette nach sich. Wenn wir mit den Technologien gehen und offen sind für Neues, sehe ich sehr gute Chancen, als Elektrizitätswerk weiterhin eine Daseinsberechtigung zu haben», blickt der Ingenieur nach vorne.

«Die Keimzelle von Innovation muss der Versorger sein, nicht der Kunde.»

 

Der Mensch ist ein Gewohnheitstier

Über 100 Jahre sichere Stromversorgung in der Schweiz. Wozu etablierte Systeme neu denken?

Überlegungen wie die des Projekts ‹Quartierstrom› bedingen neue Geschäftsmodelle. In der Branche müsse dafür noch viel Umdenken stattfinden. Die heute übliche statische Preisgestaltung reflektiere einerseits nicht den tatsächlichen Netzzustand. Das grundsätzliche Tarifmodell blieb in der über 100-jährigen Stromwelt weitgehend unverändert. Technologische Entwicklungen wie Batterien oder E-Mobilität erforderten jedoch ein angepasstes Verrechnungsmodell: «Bei gleichbleibenden Strompreisen muss ich als Nutzer nichts schalten, und ich muss auch nichts speichern. Der Strom kostet in 10 Stunden gleich viel wie jetzt», bringt es Dürr auf den Punkt.

Deshalb wünscht sich der Geschäftsleiter eine verursachergerechtere Abrechnung. «Heute zahlt man bei jeder bezogenen Kilowattstunde anteilsmässig die Netzebenen 1–7 mit. Das ist nicht wenig.»

«Wenn der Strom nicht von weit her kommt, wieso soll der Kunde immer die ganze Logistik bezahlen?»

Ein Mitgrund dafür sei, dass in der Vergangenheit ebenso wie heute bei Elektrizitätswerken stets die Versorgungssicherheit an erster Stelle steht. Dadurch kann die Schweiz zwar auf ein sehr sicheres Stromnetz vertrauen. Kosteneffizient sei dieses Denken hingegen nicht unbedingt, ist der Elektroingenieur überzeugt. Eine gemeinsame Investition in eine Solaranlage auf den Dächern nahegelegener Industriebauten beispielsweise würde nicht nur die Netzkosten für Kunden senken. Bürger in Zonen mit Ortsbildschutz, wie dem Ortskern in Walenstadt, hätten dadurch auch die Möglichkeit, sauberen Strom zu nutzen.

 

Einfach Strom handeln

Versteht denn der heutige Kunde überhaupt genug von Strom, um damit zu handeln?

«Mir ist es sehr wichtig, den Kunden ins Zentrum zu stellen», betont Christian Dürr. Deshalb entwickelte das WEW zusammen mit der Hochschule St. Gallen und der ETH Zürich eine interaktive Web-Anwendung für den lokalen Handel im Quartier ‹Schwemmiweg›. Vergleichbar einer Auktionsplattform wie ‹Ricardo› oder ‹eBay› gaben die teilnehmenden Haushalte während des Projektzeitraums, der mit Januar 2020 endete, hier ihre individuelle Preisvorstellung an: wie viel sie bereit waren, für den Bezug von Sonnenstrom zu bezahlen – und zu welchen Konditionen sie ihren produzierten Strom abgaben. Weltweit einzigartig ist der All-in-Ansatz des Projekts: Neben der Energie selbst waren auch Infrastruktur, sämtliche Abgaben sowie der ökologische Mehrwert Teil der dynamischen Preisgestaltung.

Verständlich für jedermann

Das Web-Interface ist äusserst einfach aufgebaut und auf die wesentlichen Elemente reduziert. Das WEW setzte auf allgemein bekannte Masseinheiten wie Prozentpunkte und Schweizer Franken, vermied technische Einheiten so weit als möglich. «Wir wollten das einfach extrem simpel machen. Mit verständlichen Grössen und Liniendiagrammen, sodass man rasch erkennen kann, ob etwas zu- oder abgenommen hat.»

Verstanden von jedermann

Das Verhalten der Quartierstrom-Nutzer in der Web-Anwendung wurde im Laufe des Projekts von zwei Forschern bis ins letzte Detail analysiert.

«Unsere Kunden im Quartierstrom-Projekt sind wirklich stromaffin geworden.»

Kunden werden durch den Markt technikaffiner, das hat das Projekt deutlich aufgezeigt. Zudem hat es das Verständnis für die Strombranche gefördert: «Nutzer verstehen Flexibilitäten, Speicher, volatile Energieformen wie Wind und Sonne, Bandenergie», resümiert Dürr. Sie haben nach dem Projektstart die Preisdynamik schnell durchschaut, bekamen rasch ein ausgeprägtes Wetterverständnis: «Ist es bewölkt, sind die Produktionen eher tief, die Nachfrage hoch – also steigen die Preise.»

Im Projektverlauf fiel überdies auf, dass ehemalige Grünstrom-Abonnenten eher bereit waren, ihren eigenen Produktionsüberschuss günstig anzubieten. Gleichzeitig waren sie gewillt, für den Bezug von Sonnenenergie mehr zu bezahlen. «Aber es gab genauso diejenigen, die auf den Franken geschaut haben», relativiert Dürr.

Lukrativ für jedermann?

Die Abrechnung selbst erfolgte weiterhin halbjährlich über das WEW in Schweizer Franken, wobei der lokal gehandelte Strom separat ausgewiesen wurde. Für die Teilnehmenden war der lokale Markt durchaus lukrativ: Die Vergütung für Solarstrom war innerhalb der Gemeinschaft höher als die Einspeisevergütung des Versorgers, der Preis jedoch günstiger als der Standardtarif des WEW. Durchschnittlich konnte so jeder Haushalt während des Projektzeitraums 218 Franken sparen.

Handeln via Blockchain

Nach jedem Lastgang, sprich alle 15 Minuten, fand der Handel zwischen Produzenten und Konsumenten statt. Der Preis wurde individuell festgelegt und richtete sich nach Angebot und Nachfrage am Markt. Jeder Handel erfolgte sicher auf Basis einer Blockchain, die Teilnehmenden selbst waren dabei nicht erkennbar. «Seitens des Bundesamts für Umwelt war eine hochinnovative Lösung für den Handel gewünscht», erklärt Arne Meeuw, der für die Hochschule St. Gallen die Blockchain-Architektur entwickelte: «Wir verfolgten einen Bottom-Up-Ansatz, wollten Energieaustausch, Verrechnung und den Netzaufbau unabhängig und von Grund auf gestalten. Die Blockchain-Technologie eignet sich dafür ideal».

Video: So funktioniert eine Blockchain

Und der Deal?

Der Algorithmus im Hintergrund suchte jeweils den günstigsten Produzenten und den meistbietenden Abnehmer und führte eine Transaktion durch. Der Preis entsprach dem Mittelwert, so entstand eine Win-Win-Situation. Bei minimal geforderten 10 Rappen für den Verkauf einer Kilowattstunde und maximal gebotenen 24 für den Ankauf einigten sich die Teilnehmenden hier auf 17 Rappen. Hatte der Konsument mehr Bedarf als der Produzent anbieten konnte, wurde der restliche Strom automatisch vom zweitgünstigsten Produzenten zum entsprechenden Preis-Mittelwert erworben.

 

Die «freie Schweiz»

Die Liberalisierung kommt bestimmt – irgendwann. Aber wie skaliert das Modell?

Über den Projektzeitraum konnten im Schnitt rund 60% des selbsterzeugten Stroms innerhalb des Quartiers konsumiert werden. Eine geografische Ausweitung, um als ganze Region zu versuchen, möglichst autark zu sein, wäre für Christian Dürr eine spannende Sache. Dafür müssen indes noch einige Voraussetzungen geschaffen werden.

Das Konzept soll nach dem Projektabschluss im Januar 2020 fortgesetzt werden – jedoch mit automatisiert festgelegten Preisen. «In einer einmonatigen Testphase während des Projekts übernahm ein Algorithmus den Stromhandel und definierte die Preise abhängig von Angebot und Nachfrage. In diesem Zeitraum konnte die Effizienz des Verbunds sogar noch leicht gesteigert werden. Für die Zukunft und eine etwaige Ausweitung des Konzepts macht es daher durchaus Sinn, den Handel komplett zu automatisieren», erklärt Arne Meeuw die Vorteile gegenüber manuell gesetzten Preisvorstellungen im Markt.

Wollen wir das?

Als nächster Schritt ist geplant, die Mess-Hardware im Quartier durch geeichte und zertifizierte Geräte zu ersetzen. «Inzwischen sind solche Geräte erhältlich und könnten die für das Projekt modifizierten Einplatinencomputer ersetzen», so Christian Dürr.

Es stelle sich jedoch die Frage, ob die Verschiebung der heute zentralen Leitstellen-Intelligenz auf viele dezentrale Intelligenzen in den Häusern der Kunden bei einer Ausweitung des Projekts zielführend sei. Letzteres könnte zwar einen Mehrwert liefern, beispielsweise als Zentrale für Smart-Home-Anwendungen. «Allerdings benötigt das Pflege, Schutz vor Cyber-Attacken, und irgendwann müssen die Geräte ersetzt werden, was entsprechende Aufwände nach sich zieht», so Dürr.

Können wir das?

Wichtig für die Zukunft ist für den Geschäftsleiter neben der dynamischen Preisgestaltung des Energiebezugs auch die dynamische Tarifierung der Infrastruktur.

«Wir müssen die Bepreisung von Infrastruktur und Energie immer mehr Angebot und Nachfrage anpassen.»

So könnten bei Überproduktionen dank günstiger Tarife automatisch mehr Batterien und Boiler ans Netz geschaltet werden. Erste Tests mit entsprechenden Algorithmen erfolgten im Zuge des Projekts bereits. «Unsere Erfahrungen haben gezeigt, dass etwa zehn Konsumenten nötig sind, um die Produktionskurve einer Solaranlage bestmöglich zu nutzen», gibt Meeuw Aufschluss über eine optimale Verteilung im System.

Eine zunehmende Nutzung erneuerbarer Energien bei der Ausweitung des Modells bedingt einen Ausgleich durch andere Energieformen. Wasser und Sonne seien in der Schweiz keine ideale Ergänzung, gibt Dürr zu bedenken: «Die Gleichzeitigkeit der Produktionskurven ist ungünstig, gerade bei Wasserkraftwerken in den Bergen, die stark von der Schmelze beeinflusst werden».

«Atomkraft liefert 24 Stunden und 365 Tage im Jahr Bandenergie. Das muss man physikalisch erst mal ersetzen.»

Eine sinnvolle Mischung aus Kurzzeit-, Monats- und Langzeitspeichern unterschiedlicher Energieformen mit verschiedenen Aggregationszeiten müsste genutzt werden. Nur so liesse sich die heute durchgehend verfügbare und wetterunabhängige Bandenergie der Atomkraft ersetzen. «Speziell Gas wäre ein sensationeller Saison- oder Jahresspeicher, der durch schnellere Komponenten wie Batterien ergänzt werden könnte.» Die zwei Energieformen Elektrizität und Gas werden aus Sicht des Geschäftsleiters zukünftig stärker zusammenwachsen müssen – auch europaweit betrachtet.

Bei der Ausweitung des Konzepts müsse man sich zudem Modelle überlegen, um die Datenmenge zu begrenzen, gibt Arne Meeuw zu bedenken. Ein Markt mit einzelnen Bilanzkreisen könnte eine mögliche Lösung darstellen, wobei die Datenbasis jedes Kreises vom entsprechenden Energieversorger abgerechnet wird. «In unserem Pilotprojekt war jeder Stromproduzent ein Validierungsknoten der Blockchain. Bei vielen Produzenten kommt man hier kommunikationsbedingt schnell an Grenzen», erklärt Meeuw die Limitationen.

Und...dürfen wir das?

Aber auch Gesetze müssen angepasst werden. «Wir bewegten uns mit dem Projekt regulatorisch auf dünnem Eis. Mit den heutigen Bestimmungen ist diese Art der Verrechnung nicht vollkommen gesetzeskonform», stellt Dürr klar. Er sieht immerhin Licht am Horizont. Das Departement für Umwelt, Verkehr, Energie und Kommunikation und das Bundesamt für Umwelt beschäftigten sich bereits mit dem Thema.

Und nachdem auch internationale Medien über das Projekt berichtet hatten, sind inzwischen zahlreiche Elektrizitätswerke auf das Team rund um Christian Dürr zugegangen. Das Interesse scheint geweckt.

Bildnachweis: Wasser- und Elektrizitätswerk Walenstadt, Arne Meeuw

Weiterführende Informationen

Mehr Informationen zum Projekt und Live-Daten unter www.quartier-strom.ch