transfer Ausgabe 02 | 2017

Blick fürs Ganze

Potenziale sichtbar machen – und nutzen

Eine im Hinblick auf den Gewässerschutz vermehrt immissionsorientierte Sicht, die damit verbundenen Überlegungen zur gesamtheitlichen Betrachtung von ARA und Netz mit den Möglichkeiten zur Optimierung durch eine gemeinsame Bewirtschaftung – das wird immer häufiger diskutiert. Wir haben mit dem Umweltingenieur Dr. Markus Gresch, Mitglied der Geschäftsleitung der Hunziker Betatech AG in Winterthur, darüber gesprochen, wie und wo sich Potenziale identifizieren lassen.

Herr Gresch, ganzheitliche Optimierung klingt vielversprechend. Welche Herausforderungen sind zu bewältigen?

Die Gewässerschutzverordnung definiert Ziele und Anforderungen und ist damit die Richtschnur für eine Optimierung. In Bezug auf die ARA ergeben sich daraus mit den Einleitbedingungen sehr konkrete Anforderungen, die Anforderungen für Überläufe im Netz sind demgegenüber eher diffus. Die Ingenieure haben aber damit gelernt umzugehen.

Bei einer ganzheitlichen Optimierung fehlt nun aber ein eindeutiger übergeordneter Bewertungsmassstab. Die primäre Herausforderung besteht deshalb darin, zu klären, auf welches Ziel hin ein System optimiert werden soll und wie das Erreichen dieses Ziels messbar gemacht werden kann. Dies ist eine Gemeinschaftsaufgabe von Betreibern, Planern und Gewässerökologen.

Eine weitere Hürde entsteht oft aus den organisatorischen Rahmenbedingungen. Wenn die Betreiber des Netzes und die Betreiber der ARA nicht dieselben sind, erschwert das eine Systemoptimierung zusätzlich. Da bleibt bei einer Optimierung der Blick häufig auf das einzelne Bauwerk behaftet. In zunehmender Zahl gibt es jedoch inzwischen Gemeinden, die ihre Bauwerke, oder zumindest deren Betrieb und Unterhalt, an die ARA abgeben. Die Organisation entwickelt sich damit von der ARA hinaus ins Netz. Diese Entwicklung hat im Kontext einer ganzheitlichen Betrachtung sicher Vorteile.

Was im weiteren die Gesamtsystemoptimierung erschwert ist die Erfolgskontrolle. Auf der ARA lässt sich rasch erkennen, welche Massnahmen greifen, um ein Ziel zu erreichen. Hier unterstützt uns zudem die standardmässig installierte Messtechnik. Im Netz arbeiten wir bisher mit einem eher planerischen Ansatz, typischerweise mit Vorgaben aus der Ortsplanung, die möglicherweise in 30 – 40 Jahren erreicht werden. Wir messen insgesamt weniger und können den Erfolg von Massnahmen schwer prognostizieren und auch nicht immer zuverlässig nachweisen.

Der planerische Ansatz, wie er in der generellen Entwässerungsplanung verfolgt wird, bedeutet oftmals, dass wir das System auf einen sehr langfristigen Zielzustand hin auslegen. Wir schaffen uns damit heute gewollt oder ungewollt Reserven. Diese lassen sich für den laufenden Betrieb nutzen. Die Bewirtschaftung dieser Reserven fehlte in der Vergangenheit oftmals und ist neben der Abstimmung Netz-ARA ein Kernelement einer modernen Bewirtschaftung der Abwasseranlagen.

Alternativ müssen wir uns überlegen, ob die Schaffung von Reservekapazitäten in jedem Fall den richtigen Weg darstellen. Wir können uns überlegen, eher adaptive Systeme zu bauen. Soll heissen, dass wir die Entwässerung an die Entwicklung des Einzugsgebiets koppeln. Es stellt sich damit die Frage, wie wir im Laufe der Zeit unser Abwassersystem immer wieder ‹nachstellen› können. Dezentrale Massnahmen sind dazu eine Möglichkeit. Es gibt hier zwar keine offensichtlichen Lösungen, aber ich bin überzeugt davon, dass sich da nicht nur in Bezug auf den Gewässerschutz, sondern ebenso betriebswirtschaftlich betrachtet, interessante Chancen eröffnen.

Gibt es überhaupt Spielräume für ein solches Denken? Zudem erfordern adaptive Systeme Messtechnik, die heute im Netz meist fehlt.

In der Schweiz gibt es per dato keine griffigen Vorgaben an den Betrieb der Regenüberläufe und Regenbecken. Anders als beispielsweise in gewissen Regionen in Deutschland besteht hierzulande keine Überwachungspflicht. Bislang entsteht also auch kein regulatorischer Druck, in Messtechnik im Netz zu investieren. Viele Betreiber erkennen und schätzen jedoch deren Mehrwert und sind deshalb bereit, die notwenigen Investitionen zu tätigen. Die Zeit ist also durchaus reif dafür.

Fairerweise muss man aber auch sagen, dass es auf einer ARA insofern einfacher ist zu messen, als die ARA eine kompakte Anlage mit zwar schwierigen, aber kontrollierbaren Messbedingungen und meist gut zugänglichen Messorten darstellt. Im Netz sind die Messbedingungen in Bezug auf die Dynamik, den Verschmutzungsgrad und die Zugänglichkeit viel schwieriger.

Unabhängig von der organisatorischen Einbindung werden auch Reinigungs- und Abflussprozess meist getrennt betrachtet. Würde eine gemeinsame Betrachtung helfen, die Gesamtemissionen in die Gewässer zu vermindern?

«Ich bin überzeugt davon, dass aus der Gesamtsystemoptimierung ein viel grösserer Nutzen entsteht als in der Einzelbetrachtung von ARA und Netz.»

Wir haben schon Fälle angetroffen, wo die ARA ‹gut funktioniert›, das Netz ‹gut funktioniert›, aber ein Notüberlauf vor der ARA bei jedem zweiten Regenereignis anspringt. Da kann man dann vielleicht sagen, das System war in sich gut eingestellt, aber eben nicht aufeinander abgestimmt.

Das ist vielleicht ein etwas extremes Beispiel. Generell kann aber schon gesagt werden, dass eine ARA im Betrieb laufend optimiert wird. Natürlich wurde in der Vergangenheit ebenfalls im Netz optimiert. Meist nur statisch, anhand mehr oder weniger ausgefeilter Modelle. Mittlerweile gibt es aber einige gute Bespiele, die den Mehrwert von dynamischer Optimierung im Kanalnetz aufzeigen.

Richtig interessant wird es aber, wenn die ARA in die Überlegungen zur Optimierung des Netzes mit einbezogen wird. Wenn man nur grob die Fracht betrachtet: Eine ARA entfernt 90 bis 95%, das Regenbecken hält 20 bis 30% zurück, der Regenüberlauf gar nichts. Die ARA ist also eine sehr effektive Anlage.

‹Dynamisch betrachtet› gibt es aber gerade hier Potenzial, denn eine ARA hat in der Regel betriebliche Reserven. Manche mehr, manche vielleicht etwas weniger und manche nicht immer, sondern z.B. nur im Sommer. Diese Reserven könnte man beispielsweise nutzen für die weitere Mischabwasserbehandlung. Es ist damit möglich, Entlastungen im Netz zu vermindern, indem die aktuellen Reserven bei der ARA genutzt werden.

«An der Schnittstelle Netz – ARA entsteht Optimierungspotenzial.»

Gibt es hierfür keinen Anreiz?

Rein betriebswirtschaftlich betrachtet gibt es keinen unmittelbaren Anreiz, die Schnittstelle zwischen ARA und Netz zu optimieren. Überspitzt formuliert könnte man sagen, dass jeder Kubikmeter Wasser, der durch die ARA geleitet wird, Kosten verursacht. Wird der Kubikmeter im Netz entlastet, verursacht er diese Kosten nicht. Und eine Optimierung im Netz bedeutet im Regelfall, dass man mehr Fracht auf die Kläranlage bringt. Externe Kosten, wie die Gewässerbelastung, lassen sich kaum quantifizieren – und damit auch nicht gegenüberstellen.

Aber ich möchte das bitte nicht falsch verstanden wissen: Das Anreizsystem ist der Gewässerschutz und das damit verbundene Vorsorgeprinzip. Die Betreiber wollen, dass das System sicher und zuverlässig funktioniert. Und sie sind daran interessiert, dort zu investieren, wo Verbesserungen möglich sind.

Oft ist es so, dass aus betrieblichen Gründen in Messtechnik investiert und die Daten aufs Leitsystem in der ARA gebracht werden. Und das eröffnet nicht selten ganz neue Perspektiven. Betreibern bietet sich erst damit die Möglichkeit, die Leistungsfähigkeit der Aussenbauwerke zu überwachen. Wenn man dann sieht, dass es Optimierungspotenzial gibt, ist man auch bereit, dieses Potenzial zu nutzen.

«Wenn Daten aus dem Netz auf einem Leitsystem verfügbar gemacht werden, eröffnet das nicht selten ganz neue Perspektiven.»

Und mit der konsequenteren Auflösung der Schnittstelle zur ARA bzw. ihrer dynamischen Bewirtschaftung lässt sich mit Sicherheit mancherorts Potenzial erschliessen.

Was spricht dagegen?

Wir alle wollen einen effizienten Gewässerschutz erreichen. Wir wollen aber genauso, dass unsere Anlagen jederzeit die erforderliche Leistung bringen. Dazu haben wir zuverlässige, robuste Anlagen gebaut. Reserven nutzen heisst oft auch, dass wir das System stärker ‹ausreizen›.

Ich könnte mir vorstellen, dass Betreiber möglicherweise die Sorge haben, dass die Anlage damit ihre Robustheit verliert. Hier braucht es gute Lösungen in Bezug auf die Überwachung der kritischen Prozesse auf der ARA, um die Betriebssicherheit auch bei grösserer Abwasser- und Frachtdynamik zu gewährleisten. Ich meine, dem kann man mit mess- und regeltechnischer Intelligenz begegnen.

«Wir müssen überlegen, wie es sich mit konkreten Daten aus dem Netz belegen lässt, dass Verbesserungen beim Gewässerschutz mit einer bestimmten Massnahme gelingen.»

Natürlich gilt es, zunächst organisatorische Hürden zu überwinden, dort wo Kläranlage und Netz getrennt sind. Ein weiterer Schlüssel ist die Ausbildung. Darauf wirken die Fachverbände ebenfalls hin. Und letztlich wird wichtig sein, dass der Betreiber nachvollziehen kann, dass der Gewässerschutz bei fast gleichem Mitteleinsatz verbessert wird, beispielsweise indem konkrete Daten dies unterstützen. Wir müssen ‹erkennen› können, wie – und dass – Verbesserung mit einer bestimmten Massnahme gelingt.

Aber es drängt sich nach wie vor die Frage auf, wie man dann den Erfolg einer gemeinsamen Bewirtschaftung darstellen kann.

Den Nachweis zu liefern, wieviel eine gemeinsame Bewirtschaftung bringt, ist tatsächlich schwierig. Es gibt keine zwei gleichen Regenereignisse, welche einen direkten Vergleich ermöglichen. Trotzdem lassen sich aus der geschickten Darstellung und Analyse von Betriebsdaten Aussagen zum Erfolg von Massnahmen ableiten.

Was würden Sie sich wünschen?

Ich wünsche mir einen ähnlichen betrieblichen Umgang mit den Aussenanlagen wie mit der ARA. Auch eine ARA wird auf Basis von Annahmen und Simulationen gebaut. Aber sobald die Anlage in Betrieb geht, wird sie auf der Basis von realen Daten optimiert. So etwas würde ich mir gleichermassen für das Netz wünschen. Die Realität ist einfach eine andere als jene, die eine noch so detaillierte Simulation zeigen kann.

Wir haben in Bezug auf den Werterhalt der Abwasseranlagen in Zukunft grosse Herausforderungen zu meistern. Dies wird zu einem höheren ökonomischen Druck führen. Wir werden weniger auf Vorrat bauen können und sind deshalb darauf angewiesen, unsere Systeme adaptiv zu entwickeln. Hier wünsche ich mir den offenen Umgang mit neuen Ideen.

Wo stehen wir in 20 Jahren?

Unsere Branche ist, letzten Endes mit Blick auf unsere langlebigen Anlagen, eher konservativ ausgerichtet. Trotzdem wird auch die Baubranche aufgrund der Digitalisierung von einem tiefgreifenden Wandel erfasst. Es gibt weitere interessante und neue Entwicklungen. Wir reden über das Internet der Dinge, Big Data, die ‹Professionalisierung› des Betriebs und die zunehmende Anzahl der Betreiber, die ARA und Netz unter einem Dach führen.

Wenn langfristig ein Kostendruck entsteht, wird dies gewissermassen eine Chance für Innovationen sein. Man wird genauer überlegen müssen, was ein sinnvoll eingesetzter Franken ist und ob man diesen in Beton oder Technologie investiert.

 

Herr Gresch, herzlichen Dank für das Gespräch.

 

Dieser Beitrag ist Teil der Interviewreihe «Das gute Gewässer – Handlungsoptionen und Zukunftsgedanken». In diesem Rahmen haben wir uns auch mit Hans Balmer, Gewässerschutzinspektor im Amt für Abfall, Wasser, Energie und Luft (AWEL) des Kantons Zürich und Christian Güdel, Leiter des Bereichs Infrastruktur der Stadtentwässerung Winterthur, unterhalten.

Das Interview mit Hans Balmer lesen Sie hier.
Das Interview mit Christian Güdel lesen Sie hier.