transfer Ausgabe 02 | 2018

250 Megawatt im Minutentakt

Herausforderung Stromversorgung bei der SBB

Mehr als 1,25 Millionen Passagiere befördert die SBB täglich. Sicherheit und Pünktlichkeit stehen für sie an erster Stelle. Alleine die Energieversorgung für den Fahrbetrieb zu jeder Zeit sicherzustellen ist eine Herkulesaufgabe. Wir haben mit Marionna Lutz, Leiterin Dimensionierung Energie bei der SBB, gesprochen, wie diese bewältigt werden kann.

Frau Lutz, worin liegen die besonderen Herausforderungen in der Energieversorgung für den Bahnbetrieb?

Die sichere Versorgung mit Elektrizität hat bei der SBB natürlich eine hohe Bedeutung. Wir betreiben das dichteste Eisenbahnnetz in Europa und benötigen dafür pro Jahr rund 2'500 GWh elektrische Energie. Eine Besonderheit ist dabei sicherlich, dass wir nicht nur Stromabnehmer sind, sondern gleichzeitig in sieben eigenen Wasserkraftwerken Strom produzieren, das Verteilnetz betreiben – und darin auch die Verteilung steuern.

Dieser immense Energiebedarf – unser eigener und jener der 15 Privatbahnen – fliesst über unser eigenes 16,7-Hz-Netz als Bahnstrom in den eigentlichen Bahnbetrieb. Selbst wenn diese Grössenordnung alleine schon interessant ist: Viel herausfordernder ist der Umstand, dass wir Lastschwankungen von bis zu 250 MW im Minutentakt meistern müssen. Solche Sprünge unterscheiden sich fundamental vom 50-Hz-Netz einer Gemeinde oder einer Stadt. Unsere grösste Aufgabe ist es also, jederzeit diese Schwankungen und gleichzeitig Bezugsspitzen von bis zu 750 MW im Winter zu den Hauptverkehrszeiten meistern zu können.

Worin liegen die Ursachen dieser enormen kurzfristigen Lastwechsel?

Eine doppelstöckige S-Bahn, beispielsweise in einer üblichen 3-fach-Komposition, hat beim Anfahren einen Leistungsbedarf von bis zu 18 Megawatt. Pro Tag verkehren über 10'000 Züge auf unserem Netz und aufgrund des Taktfahrplans fahren viele innerhalb weniger Minuten los. Dies führt zu enormen Lastspitzen.

Wie gehen Sie damit um?

Technisch gesehen müssen wir sehr viel Regelenergie vorhalten. Den Grossteil der von uns benötigten Energie stellen wir durch unsere eigenen Kraftwerke zur Verfügung. Den Rest beziehen wir mit acht in der gesamten Schweiz verteilten Frequenzumformern aus dem 50-Hz-Netz. In Summe könnten wir in dieser Konstellation jederzeit rund 20 Prozent mehr Leistung beziehen, als wir tatsächlich benötigen. Das ist nötig, damit wir auch während der Lastspitzen genügend Energie haben. Für ein ‹normales› Netz wäre dies völlig überdimensioniert.

Und: Wir bauen an einem innovativen Energiemanagementsystem, in dem wir zu jeder Zeit das Lastbild des gesamten Schienennetzes sowie der erzeugenden Werke und Zulieferer sehen. Damit können wir direkt Einfluss nehmen und Lastspitzen minimieren.

«Mit einem innovativen Lastmanagement versuchen wir Lasten zu verschieben und so Lastspitzen zu brechen.»

Die Lastspitzen sind besonders im Winter während der Hauptverkehrszeit am grössten. Bei solchen besonders grossen Lastspitzen können wir beispielsweise gezielt die Wagenheizungen für einige Momente ausschalten. Unsere Kundinnen und Kunden merken nichts davon, aber wir können damit die Lastspitzen glätten. Über die Laststeuerungen der Zug- und Weichenheizungen liesse sich der Spitzenbezug kurzfristig um bis zu 70 MW einschränken – nur indem wir die Schaltzeiten verschieben. Wir setzen aber nur Massnahmen um, die keine negativen Auswirkungen auf den Reisekomfort oder die Pünktlichkeit haben.

Im Juni 2005 sind Hunderttausende Reisende gestrandet. Grund war ein totaler Stromausfall im Versorgungsnetz der SBB, ein ‹Blackout›. Was ist heute anders als vor 13 Jahren?

Seither ist Vieles geschehen. Allem voran ist sicher die Einführung des zentralen Energiemanagement­systems (EMS) zu nennen, mit dem wir von Zollikofen im Kanton Bern aus heute das gesamte Netz überwachen. Zusammen mit dem ebenfalls neuen zentralen Fahrstromleitsystem (FLS) hat die SBB rund 40 Millionen Franken investiert.

Die Dispatcher in Zollikofen, also die Personen, welche den Leistungsfluss steuern können, sehen heute das gesamte Netz, schweizweit, mit einer durchgängigen Qualität der Informationen und können strukturierter und gezielter entscheiden. Alarme sind priorisiert, die wichtigen werden von den unwichtigen unterschieden. Das hilft bei der Störungssuche.

Zum anderen haben wir in den physischen Netzausbau investiert und den Ringschluss der Übertragungsleitungen forciert. Ein solcher Ausbau stösst natürlich nicht überall auf Gegenliebe, denn wer will schon neue Hochspannungsleitungen in der Landschaft. Aber für einen stabilen und pünktlichen Bahnbetrieb war das nötig.

Es stand dazumal ja auch das Störungsmanagement in der Netzführung in der Kritik. Wie haben Sie darauf reagiert?

Neben allen technischen Verbesserungen, die wir vorgenommen haben, haben wir seither auch viel in die Weiterbildung investiert. Denn auch wenn wir heute sehr viel technische Unterstützung haben, ist der Mensch entscheidend, insbesondere im Störungsfall.

«Wir haben ein eigenes Bildungszentrum für den Netzbetrieb aufgebaut.»

Alle Mitarbeitenden der Netzleitstelle werden dort regelmässig geschult. An Simulatoren lernen sie beispielsweise das korrekte Vorgehen bei einem Ausfall, wie man einen Netzabschnitt danach Schritt für Schritt wieder in Betrieb nimmt, wie und wann welche Verbraucher zugeschaltet werden. Nur so kann Routine entstehen, auch in Situationen, die eben nie vorkommen sollen.

Erzeugung, Verteilung und im Grunde ja sogar der Verbrauch sind automatisiert. Wie gehen Sie dabei mit der Cyber Security um?

Da unsere Systeme exponiert sind, legen wir auch ein Hauptaugenmerk auf die Sicherheit unserer Netze. Wir verfügen deshalb über eine eigene Abteilung, welche sich auf Konzernebene explizit um die Sicherheit unserer Informations- und Kommunikationsinfrastrukturen (IKT) kümmert – sei dies schon ganz zu Beginn, indem sie bei Ausschreibungen und Neuinvestitionen den sicherheitstechnischen Takt angeben, oder mit regelmässigen Audits unsere Anlagen und Prozesse überprüfen. Als Stromerzeuger, eingebunden in das europäische Versorgungsnetz, orientieren wir uns natürlich auch an den Standards der Energiebranche.

Wir tun ausserdem Vieles zur Sensibilisierung der Mitarbeitenden. Dabei hilft, dass Sicherheit für uns generell sehr wichtig ist. Das ist eine Grundvoraussetzung im Bahnbetrieb. Dadurch haben wir eine hohe Sicherheitskultur – so lässt sich auch für die IKT-Sicherheit die notwendige Aufmerksamkeit bei allen gewinnen.

Wohin geht die Reise?

Der Energieverbrauch und vor allem die Leistungsspitzen werden eher zunehmen. In einem immer dichteren Fahrplan verkehren nicht nur einige Züge mehr, sondern man braucht vor allem spurtstarke Kompositionen, die dann entsprechend Leistung aus dem Netz beziehen werden. Das wird uns fordern.

Nicht nur deshalb, sondern ganz generell, versuchen wir seit Jahren den Gesamtenergieverbrauch zu reduzieren. Da sind wir schon ganz gut unterwegs. Trotz einer Zunahme der Verkehrsleistung zwischen 2015 und 2017 – im Fernverkehr um +5%, im Regionalverkehr um +15% – haben wir rund 3% weniger Bahnstrom benötigt. Das ist das Ergebnis vielfältiger Energiesparmassnahmen sowie Einsparungen dank dem Einsatz effizienterer Komponenten und besseren Rollmaterials.

Und was uns auch wichtig ist: Als Teil unseres Beitrags zur Energiestrategie 2050 haben wir uns zum Ziel gesetzt, dass bis zum Jahr 2025 100 Prozent unseres benötigten Stromes aus erneuerbaren Energien stammt. Bereits heute beträgt der Anteil 90 Prozent.

Herzlichen Dank für das Gespräch.