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01 | 2020 DAS RITTMEYER KUNDENMAGAZIN Sektorkopplung Erneuerbarer Strom sinnvoll gespeichert Ungeahnte Potenziale Redundanzen und Flexibilitäten nutzbar gemacht Kunden ins Boot geholt Zukunftsweisende Projekte zeigen, wie’s geht

PERSÖNLICH GESPROCHEN Aus Strom wird Energie X Energiesektoren soll(t)en zusammenrücken pERSÖnliCH GESpRoCHEn 01| 2020 2 | 3

‹Atom- und Kohleausstieg›, ‹Dekarbonisierung›, ‹Klimawandel› – den Begriffen gemeinsam ist, dass sie eine tiefgreifende Umgestaltung unseres gesamten Energiesystems implizieren. Die Anteile der Strom- und Wärmeerzeugung aus den knapper werdenden fossilen Energieträgern, also Erdöl, Kohle oder Gas, müssen durch solche aus erneuerbaren Energien ersetzt werden. Sonst gelingt die Dekarbonisierung nicht. Und ohne diese werden wir die Klimaziele nicht erreichen. Die grosse Stärke der (heute) konventionellen Kraftwerke ist ihre Bandlastfähigkeit. Sie sind planbar und steuerbar, liefern kontinuierlich Energie, rund um die Uhr, sommers wie winters. Strom aus Solar- und Windkraft ist das eher weniger, seine Erzeugung ist so fluktuierend wie der Energieträger selbst. Dafür gibt es Erneuerbare im Überfluss: Das Max-Planck-Institut für Meteorologie hat ausgerechnet, dass beispielsweise die Sonne in nur 3 Stunden so viel Energie liefert, wie die gesamte Menschheit in einem Jahr verbraucht. Auch Energie aus Wind und Wasser haben wir mehr als genug. Nicht zuletzt deshalb sprechen Forscher davon, dass sich unser globales Energiesystem in den nächsten hundert Jahren von einem System der Knappheit in ein System des Überflusses wandeln wird. Aber: Der Umbau unseres Energiesystems ist eine Mammutaufgabe, die Koordination der dazu notwendigen Massnahmen hochkomplex. Dabei wird es die Technologie allein nicht richten können. Politische Rahmenbedingungen müssen angepasst, Fragen der Wirtschaftlichkeit geklärt, ökologische Vereinbarkeiten geprüft werden. Die Liste der offenen Fragen ist lang, der vorgegebene Zeitrahmen – Stichwort: Energiestrategie 2050 – eng. Das bestätigt auch Prof. Dr. Gabriela Hug, Leiterin des Instituts für elektrische Energieübertragung und Hochspannungstechnik an der ETH Zürich. Im Interviewbeitrag ab Seite 6 schildert sie, wie ihres und viele weitere Forschungsteams versuchen, mit immer vielschichtigeren Modellen Antworten für diese grenzüberschreitenden Herausforderungen zu finden. Im Kontext der Veränderung der Energienetze taucht auch immer wieder die Frage nach notwendigen Reserven auf. Ein mögliches Potenzial erschliesst das trinationale Projekt ‹Poweralliance›. Projektleiter Yves Wymann zeigt ab Seite 16 eine Möglichkeit, wie bislang brachliegende Netzkapazität einer operativen und damit auch finanziellen Verwertung zugeführt werden kann. Eine weitere potenzielle Antwort liefert das Wasser- und Elektrizitätswerk Walenstadt (WEW) mit seinem vom Bundesamt für Energie (BFE) geförderten Leuchtturmprojekt ‹Quartierstrom›: 37 Haushalte handelten im vergangenen Jahr ihren überschüssigen Strom aus den eigenen Solaranlagen direkt in der Nachbarschaft. Christian Dürr, Leiter des WEW, berichtet ab Seite 20 von den gemachten Erfahrungen. Vielversprechend ist auch der Ansatz, die verschiedenen Energiesektoren zu vernetzen – die ‹Sektorkopplung›. Diese Technologien, auch als ‹Power-to-X› bekannt, machen es möglich, elektrische Energie in eine speicherbare Form, wie z. B. Gas, zu überführen, um sie zu einem späteren Zeitpunkt nutzbar zu machen. Nadine Brauchli, Bereichsleiterin Energie im Verband Schweizerischer Elektrizitätsunternehmen (VSE) bedauert allerdings, dass in der Energiepolitik nach wie vor die dazu notwendige gemeinsame Betrachtung der Sektoren fehle. Weshalb für die Expertin gerade jetzt der richtige Zeitpunkt wäre, diese Haltung zu überdenken, erklärt sie ab Seite 10. Eine vielversprechende Kombination der Energiesektoren könnte sich mit dem gezielten Ausbau der thermischen Netze entwickeln. Für Querverbundunternehmen entstehen dabei völlig neue Möglichkeiten der energetischen Gesamtoptimierung. Um diese Vorhaben im Schweizer Markt bestmöglich zu begleiten, haben wir uns in einem Joint Venture mit der österreichischen aqotec GmbH zusammengetan. Gemeinsam bieten wir daraus Komplettlösungen für die Fern- und Nahwärmetechnik an. Lesen Sie mehr hierzu ab Seite 28. Andreas Borer, CEO der Rittmeyer AG, und Christian Holzinger, geschäftsführender Gesellschafter der aqotec GmbH, sprechen zudem ab Seite 30 über den Markt und das Potenzial dieses Zusammenschlusses für Betreiber. Die sichere und zugleich ökologisch und volkswirtschaftlich ‹richtige› Energieversorgung muss jedenfalls langfristig geplant sein. Das zeigten viele unserer Gespräche, die wir in diesem Magazin festgehalten haben. Sie zeigten auch, dass ein ernsthafter, konstruktiver Dialog notwendig ist. Bei den Energieversorgern, aber auch in unserer Gesellschaft. Und dies besser heute als morgen. Ich hoffe, dass wir Ihnen mit der neuen Ausgabe des ‹transfer› einige Anregungen dazu liefern können. Suchen Sie das Gespräch, untereinander, innerhalb und zwischen den Branchen, mit uns. Wir freuen uns darauf. Herzlichst Ihr André Kaufmann, Bereichsleiter Wasserkraft

6 20 INHALT iMpRESSUM transfer ist das Kundenmagazin der Rittmeyer AG und erscheint zweimal im Jahr. Herausgeber Rittmeyer AG Ein Unternehmen der Gruppe BRUGG Inwilerriedstrasse 57, CH - 6341 Baar www.rittmeyer.com Verantwortlich für den inhalt Andreas Borer (v.i.S.d.P.) Redaktion und Umsetzung up! consulting ag, Ruggell (FL) E-Mail an die Redaktion transfer@rittmeyer.com Bildnachweis Rittmeyer AG, iStock (petovarga: S. 1 | elenabs: S. 5 | Weenee: S. 5 | ikryannikov: S. 5 | brichuas: S. 7, 9 | VectorPocket: S. 13 | filo: S. 20–23 | TommL: S. 28 | nimis69: S. 30 | fishbones: S. 40–43 | mladensky: S. 36–39), Jens Ellensohn (S. 2), Gian Vaitl (S. 21), Adobe Stock (lim_pix: S. 11–12 | Blue Planet Studio: S. 16–19), Poweralliance (S. 18); Wasser- und Elektrizitätswerk Walenstadt (S. 4, 22); Shutterstock (Martin Steiner 77: S. 36–39); ARA Morgental (S. 44–47) Erscheinungstermin Mai 2020 Falsche Anschrift? Bitte teilen Sie uns mit, sollten Sie eine neue Anschrift haben: www.rittmeyer.com/anschrift Die in den Artikeln veröffentlichten Ansichten, Meinungen und Empfehlungen Dritter müssen nicht mit der Meinung der Rittmeyer AG übereinstimmen. 10 Tandems für die Zukunft: Sektorkopplung für eine dekarbonisierte Schweiz 13 Grüner Wasserstoff für den Schwerverkehr: Erfolgversprechende Kopplung der Sektoren Energie und Mobilität 16 Halbvoll oder halbleer? Reserven im Stromnetz verfügbar machen 24 Gehärtet: Mehr IKT-Sicherheit für die Kommunikationsinfrastruktur der IBB 28 Mit vereinten Kräften zur klimaneutralen Fernwärme: Schon heutefitfürdie­ Anforderungen von morgen 30 Einzigartiges Angebot: Gebündelte Kompetenzen für die Fernwärme 33 Gesamthaft effizient: Stromproduktion durch Trinkwasser in Sarnen 36 Zusammenschluss mit Weitblick: Langfristig geplante Energieversorgung bei den tb.glarus Der Handel im Wandel Stromversorgung von morgen: Walenstadt macht’s vor Modelle gegen die Unsicherheit Komplexe Integration erneuerbarer Energien in die Stromversorgung 40 Die Antwort ist flexibel: Intelligentes Energiemanagement beim Stromversorger 44 Willkommen im Energiepark! Wie eine Kläranlage zum Versorger wird FACHTHEMA & INTERVIEW APPLIKATION & STORY PRODUKT & NEWS ZAHLEN & FAKTEN 01| 2020 4 | 5

50 70 % 70 –8 0% 75– 80 % 30 –5 5% 70 –9 9% 50 –6 0% 80 –9 8% 80 –9 0% 30 0– 45 0% * 30–40% 90% 80 –9 5% 10%, 90% Verwendung als Rohstoff oder Treibstoff PO WE R-T OLIQ UID PO WE R-T OGA S PO WE R-T OGA S-T OPO WE R PU MP SP EIC HE RKR AF TW ER KE Au tob att erie n a ls Str om spe ich er GA S-T OHE AT PO WE R- TO -H EA T VE RK EH R BO ILE R / TA UC HS IED ER WÄ RM EP UM PE BLOCKHEIZKRAFTWERK FE RN WÄ RM EN ET Z Wirkungsgrad Kurzzeitspeicherung möglich Langzeitspeicherung möglich mit Kraft-Wärme-Kopplung Wasserstoff H2 Methan CH4 Sektorkopplung ZAHlEn & FAktEn Quellen: Eurostat, Wikipedia, Heise *Die energetische Effizienz einer Wärmepumpe wird mit der Jahresarbeitszahl (JAZ) angegeben und liegt zumeist zwischen 3 und 4,5. Eine Wärmepumpe mit einer JAZ von 3 benötigt z. B. 1 kWh Strom um 3 kWh Wärme abzugeben. des Endenergieverbrauchs in Haushalten in der EU gehen auf Heizen und Warmwasserbereitung zurück. 79% der Energie in der Industrie innerhalb der EU werden für Raum- und Prozesswärme, 26,7 % für Beleuchtung sowie Maschinenbetrieb und nur 2,7 % für Kühlung benötigt. 70% 2016 wurden in Deutschland vor allem Windräder, aber auch Photovoltaikanlagen und Biomassekraftwerke regelmäßig abgeschaltet, um das Stromnetz nicht zu überlasten. Dadurch sind etwa 3 700 GWh an Energie verloren gegangen. Projekte und Lösungen zur Sektorkopplung sollen helfen, dieses Problem zu lösen, indem eine Verknüpfung von Strom, Gas, Wärme, Verkehr sowie von industriellen Prozessen stattfindet und Überschussstrom somit sinnvoll genutzt bzw. gespeichert wird. Der Anteil erneuerbarer Energien am Strombedarf der EU lag 2018 bei 32 %. Ihr Anteil am Gesamtenergiebedarf (Strom, Wärme, Treibstoffe, etc.) hingegen lag bei 18 %.

INTERVIEW Modelle gegen die Unsicherheit Komplexe Integration erneuerbarer Energien in die Stromversorgung intERViEW Frau Hug, Stromversorgung ohne Bandenergie der Kernkraft, volatile Verfügbarkeit der Erneuerbaren, zunehmend stromhungrige Verbraucher. Und so weiter. Wie kann man denn bei so vielen Unwägbarkeiten überhaupt ein Versorgungsnetz der Zukunft planen? Das ist in der Tat sehr komplex. Die Physik ist dabei aber nur ein Teil. Auch der Markt ist entscheidend dafür, ob und was sich überhaupt realisieren lässt. Und die Regulierungen, die bestimmen, was man tun darf und was nicht. Ich denke da beispielsweise an den Handel von Strom unter Privaten, die Eigenverbrauchsgemeinschaften und deren Grenzen. Um ein solches Gebilde für die Zukunft zu planen, braucht es mathematische Modelle des Gesamtsystems. Dazu müssen verschiedene Wissenschaften und Einrichtungen zusammenarbeiten: Wirtschafts- und Politikwissenschaften, Elektrotechnik, Maschinenbau und Gebäudetechnik, Risikomanagement, etc. Dies tun wir in Kollaboration mit dem Energy Science Center an der ETH, der Forschungsstelle Energienetz und diversen Lehrstühlen. All diese Expertisen müssen einfliessen. Wir haben heute eine zu praktisch 100% verfügbare Stromversorgung. Diesen Status Quo will ja auch niemand verlieren. Welche Überlegungen sind dazu notwendig? Wenn man Atomkraftwerke durch Erneuerbare ersetzen will, stellt sich natürlich die Frage, welche Reserven man einplanen muss, um Unsicherheiten in der Versorgung durch Erneuerbare auszugleichen. Und wo. Eine weitere interessante Fragestellung in diesem Zusammenhang ist, wie sich die Energieversorgung im benachbarten Ausland zukünftig entwickeln wird. Würden wir dies ignorieren, kämen wir zu bedeutend anderen Resultaten bezüglich Verfügbarkeiten, und den Möglichkeiten zum Import bzw. Export von elektrischer Energie. Wenn jeder auf Solarenergie setzt, dann wird es an einem sonnigen Tag, wo wenig verbraucht wird, auch im Ausland wenige Abnehmer geben. Solche Abhängigkeiten zu modellieren ist herausfordernd. Wie berücksichtigt man den internationalen Kontext? Einer der Ansätze ist in der Plattform ‹Nexus-e› umgesetzt, mit der wir komplexe und interdisziplinäre Fragen untersuchen wollen. Also beispielsweise wie sich technische, sozioökonomische und politische Entscheidungen auf die Leistung des zukünftigen Energiesystems auswirken. Dieser Modellierungsrahmen hat die Fähigkeit, Synergien zwischen bestehenden Modellen zu scha�en und aktuelle Modellierungsparadigmen für Energiesysteme zu erweitern. Das Stromnetz der Zukunft: Wie sieht es aus? Und vor allem: Wie gelangen wir dahin? Antworten auf diese Fragen sucht das Institut für elektrische Energieübertragung und Hochspannungstechnik der ETH Zürich mit der Gruppe um Prof. Dr. Gabriela Hug. Sie gewährt uns einen Einblick – und einen Ausblick. → 01| 2020 6 | 7

«Wenn man Atomkraftwerke durch Erneuerbare ersetzen will, stellt sich die Frage nach Reserven und wo man diese einplanen muss.» prof. Dr. Gabriela Hug, leiterin institut für elektrische Energieübertragung und Hochspannungstechnik, EtH Zürich

INTERVIEW Grosse Unsicherheiten verursachen dabei regulatorische Entscheide. Sie haben einen massiven Einfluss darauf, wie sich das Netz entwickeln wird. Fördermassnahmen laufen aus, Bewilligungsverfahren werden verzögert. Ein Beispiel hierfür ist der stagnierende Ausbau der Windkraft in Deutschland. So etwas ist schwer ‹planbar› oder vorhersehbar. Und wie plant man den Stromkunden? Verbraucht er mehr oder weniger, oder einfach anders als heute? Die Energiestrategie 2050 hat ja auch zum Ziel, ganz generell den Energieverbrauch zu reduzieren. Nur: wollen wir unser gesamtes Energiesystem nachhaltiger machen und die Dekarbonisierung vorantreiben, dann ist die Elektrifizierung von Verbrauchern entscheidend. Denken wir an die Mobilität. Hier ist es wünschenswert, dass der elektrische Energieverbrauch, der als Ersatz für die weniger nachhaltigen Energieformen der fossilen Brennstoffe dient, zunimmt. Was auf physikalischen Gesetzen beruht, ist dabei relativ einfach zu modellieren. Dort hingegen, wo man Annahmen tre�en muss, gibt es Unsicherheitsfaktoren: Wo wird es wann Elektroautos geben? Wie entwickeln sich die Kosten für die Produktion von Strom? Und wie die Preise für Solaranlagen und Speicher? Auch bei diesen Annahmen helfen uns Plattformen wie Nexus-e. Es verbindet die verschiedenen Forschungsrichtungen, macht die Abhängigkeiten zwischen den Energiesektoren sichtbar und ermöglicht so die Harmonisierung verschiedener Forschungsstandpunkte. Allerdings ist das wirklich sehr aufwändig und benötigt unglaubliche Rechenressourcen, die wir derzeit gerade wieder aufstocken. (schmunzelt) Auf den ersten Blick klingt das nach ‹nichtlösbar›…!? Doch, sicher: Es ist machbar! Offen ist, wie so häufig, die Frage nach den Kosten. Selbst falls damit unsere zukünftige Stromversorgung teurer werden sollte, dann ist es, wie ich finde, gerechtfertigt. Es darf auch etwas kosten. Man kann doch nicht einfach auf die Frankenbeträge schauen. Richtigerweise müsste man hierzu ebenso beispielsweise die Entwicklung der Gesundheits- und Umweltkosten betrachten, wenn wir so weitermachen wie bisher. Strom ist auch etwas, das wir haben wollen, auf das wir nicht verzichten wollen, dessen Verfügbarkeit bei uns äusserst hoch ist. Es gibt sogar Forschung dazu, wie viel dem Konsumenten die Zuverlässigkeit des elektrischen Netzes wert ist. Man könnte sich beispielsweise Tarifmodelle ausdenken, die einen Preisnachlass gewähren, wenn man pro Jahr eine gewisse Zeit ohne Strom sein kann. So beeinflussen Geschäfts- und Marktmodelle auch das physikalische Netz. Vielleicht war den meisten bei der Abstimmung zur Energiestrategie 2050 nicht so ganz klar, dass man nicht einfach die Atomkraftwerke abschalten kann. Sondern dass es unter anderem auch ein gewisses Engagement des Verbrauchers benötigen wird. Wenn die Stromkunden mitmachen, vorhandene Flexibilitäten anbieten, und auf der anderen Seite auch investieren, dann kann es gelingen. Das macht es sicher einfacher, als wenn beim Verbraucher einfach alles beim Alten bleibt und man trotzdem die Energiestrategie umsetzen will – ohne dessen Beteiligung. Die Einspeisung wird dezentraler, die Netze komplizierter und weniger planbar. Wie bekommt man das in Griff?­ Zukünftig werden wir wohl am ehesten eine Mischform haben von Dingen, die zentral beobachtet und gemanagt werden müssen, und lokalen Entscheiden. Eine zentrale Steuerung, so wie wir sie heute kennen, wird aus meiner Sicht gar nicht mehr möglich sein. Wir reden von Millionen von Datenwerten. Und Daten sind nicht gleich Information. Man muss sie auch interpretieren können, um sie nutzbar zu machen. Deshalb geht es darum, bereits lokal intelligente Entscheide zu treffen, und diese Informationen über den Netzabschnitt hinaus auszutauschen, um so ein besseres Monitoring des Gesamtnetzes zu ermöglichen. Die Kommunikation zwischen den einzelnen Einheiten stellt zwar einen zusätzlichen Aufwand dar, ist aber aus meiner Sicht der nachhaltigere Ansatz der Umsetzung. Das gilt auch länderübergreifend? Wir sind Teil eines riesengrossen europäischen Netzes. Absolut. Alles, was wir jetzt überlegen, muss Hand in Hand mit den Überlegungen der Nachbarländer gehen. Wir müssen das Ausland einbeziehen in die langfristigen Planungen und die Entscheide, die Einfluss darauf haben, wie und wo Abhängig- «Wenn die Stromkunden ihre Flexibilitäten anbieten aber auch selbst investieren, kann die Energiestrategie 2050 gelingen.» 01| 2020 8 9 |

keiten entstehen. Die politische Dimension ist dabei sicher nicht ganz einfach. Ob das Stromabkommen mit der EU zustande kommt, hängt auch von den Ergebnissen der Rahmenvertragsverhandlungen ab. Natürlich stellt sich die Frage: Wie stark will man vom Ausland abhängig sein? Es ist absurd, wenn wir Atomkraftwerke abschalten, im Nachbarland aber neue gebaut werden und wir den Strom von dort beziehen. Nur: Man kann nicht an der Grenze ‹schlecht produzierten Strom› zurückweisen. Wir können uns nicht abkapseln. All dies spielt bei den Überlegungen für die Zukunft unserer Stromversorgung mit. Auf dem Weg dahin gibt es jedoch viele Dinge, die wir als Schweiz ‹lokal› entscheiden können und müssen. Beispielsweise wenn es darum geht, wie wir dezentrale Ressourcen optimal ausgleichen können. Trügt denn die Wahrnehmung, dass in der Schweiz irgendwie die Weiterentwicklung‹steht›? Zu einem bestimmten Grad stimmt das vielleicht. Es bräuchte sicher mehr Investitionen in erneuerbare Energien. Ob es dazu eine zusätzliche Förderung braucht, oder vielleicht nur neue Business-Modelle, ist schwierig zu beantworten. Ich sehe unsere Aufgabe vornehmlich darin, herauszufinden, was unterstützend im Netz passieren muss, um die Energiestrategie und den dort beschriebenen Leistungsbedarf umzusetzen. Wir schauen dabei weniger auf Fördermassnahmen, sondern was dazu auf der Netzseite passieren muss: Wieviel Ausgleich kann man aus der Flexibilität der Kunden bekommen? Wo können Speicher helfen? Was könnte man erreichen, wenn man ein Netz genauer modellieren könnte – und es damit weniger konservativ dimensionieren muss? So gibt es viele Fragen, die noch nicht befriedigend beantwortet sind. der Schweizer Mentalität, eher etwas vorsichtiger zu sein. Natürlich haben wir den Vorteil, dass bereits ein grosser Teil unserer Stromproduktion aus der Wasserkraft kommt. In Deutschland die Energiewende von Kohle zu schaffen, ist sicher eine grössere Herausforderung als in der Schweiz, wo wir schon relativ viel Erneuerbare im Netz haben. Trotzdem bleibt die Frage, wie wir die Atomkraft ersetzen wollen. Damit man etwas weiterbringen kann, braucht es auch einen Anstoss. Meiner Meinung nach hält sich derzeit die Wahrnehmung, dass es noch Zeit hat. Und dass die neuen Technologien noch nicht weit genug entwickelt sind. Ein grosser Schritt wäre es schon, wenn es gelänge, Verständnis dafür zu erreichen, dass das elektrische Netz ein ziemlich komplexes Gebilde ist. Dabei müssen Erzeugung und Verbrauch immer im Gleichgewicht sein. Natürlich kann man etwas speichern. Aber das ist deutlich komplizierter als der Öltank oder der Kohleberg, den man ansammeln und dann Zug um Zug abbauen kann. Das ist sicher das erste, das man verstehen muss. Und damit könnte man vielleicht erklären, warum Solarenergie allein ohne unterstützende Technologien nicht die Lösung ist. Frau Prof. Dr. Hug, herzlichen Dank für das Gespräch. Sollten sich Stromversorgungsunternehmen nicht mit diesen Fragen beschäftigen? Viele machen das, ja. Und es gibt sogar kleinere EVUs, die motiviert sind, aktiv etwas zu tun. Wie beispielsweise das EW Walenstadt mit ihrem Projekt ‹Quartierstrom› (Anm. d. Red.: Lesen Sie dazu auch den Beitrag auf Seite 20). Aber es gibt sicher auch Energieversorger, die eher konservativ unterwegs sind und die Vorreiterrolle scheuen: Wollen wir uns beteiligen, oder warten wir ab und bleiben so wie wir sind? Die Frage ist ausserdem, schaue ich als Verbundunternehmen über meine ‹Energiegrenzen› hinaus – Strom, Gas, Wasser, Wärme – oder behandle ich das isoliert? Da kommt es sicher sehr darauf an, wer leitet und wie interessiert die Mitarbeitenden sind. Sind andere Länder weiter? In einzelnen Aspekten sind verschiedene Länder unterschiedlich weit. In der Elektromobilität ist beispielsweise Norwegen absoluter Vorreiter, bei der Windenergie ist es Dänemark. Ich kann zwar nicht beurteilen, ob die Entwicklung zukünftiger Energiekonzepte in anderen Ländern generell rascher voranschreitet. Aber man hat schon manchmal das Gefühl, es geht in der Schweiz nicht ganz so schnell vorwärts. Könnenwiraufholen? Vielleicht entspricht das derzeitige Vorgehen einfach ein bisschen Zur Person Prof. Dr. Gabriela Hug (*1979) ist ordentliche Professorin für Elektrische Energieübertragung an der ETH Zürich und eine international viel beachtete Wissenschaftlerin. Im Zentrum ihrer Forschungstätigkeit stehen der Entwurf und die Optimierung von zukünftigen Energienetzen. Dabei ist ihr ein starker Praxisbezug wichtig.

FACHtHEMA TANDEMS FÜR DIE ZUKUNFT Sektorkopplung für eine dekarbonisierte Schweiz Die Schweizer Stimmbevölkerung sagte 2017 ‹Ja› zur Energiestrategie 2050 des Bundes. Damit entschied sie sich für den vermehrten Einsatz erneuerbarer Energien und eine Steigerung der Energieeffizienz. Mit der Unterzeichnung des Pariser Klimaschutz-Abkommens hat sich die Schweiz dazu verpflichtet, den CO2-Ausstoss zu reduzieren. Nadine Brauchli vom Verband Schweizerischer Elektrizitätsunternehmen (VSE) zeigt auf, wie diese Ziele erreicht werden können. Ein Schlüsselelement ist die ‹Sektorkopplung›. FACHtHEMA Nadine Brauchli Bereichsleiterin Energie, Verband Schweizerischer Elektrizitätsunternehmen (VSE) 01| 2020 10 | 11

power- to-Heat Gas-to- Heat Gas-toliquid power-toliquid power- to-GGGas Gas-to- power Netto-Null Die Schweiz strebt bis 2050 CO2-Neutralität an. Dazu ist es nötig, den Energieverbrauch zu dekarbonisieren und den Fokus auf erneuerbare Energien zu legen. Auch die Nutzung aller vorhandenen Flexibilitäten spielt dafür eine zentrale Rolle, ist sich Nadine Brauchli vom VSE sicher. «Strom, Gas, Wärme, Verkehr, aber ebenso industrielle Prozesse müssen technisch und energiewirtschaftlich miteinander verknüpft werden, um so die Ressource Energie optimal zu nutzen», so die Bereichsleiterin Energie. Die Sektorkopplung leistet einen Beitrag, um erneuerbare Energien wie Wind oder Photovoltaik im Energiesystem zu integrieren. Sie ermöglicht es, kurzfristig überschüssige Energie zu absorbieren, umzuwandeln und in anderen Sektoren, z. B. in Form von erneuerbarem Gas, nutzbar zu machen. Strom sucht Speicher Bei zunehmender Elektrifizierung wird sich zwangsläufig auch der Stromverbrauch erhöhen – beispielsweise durch den vermehrten Einsatz von Wärmepumpen und die Elektromobilität. Dies wird sich durch eine verbesserte Energieeffizienz nicht ausgleichen lassen. Strebt man CO2-Neutralität an, steigt der Strombedarf bis 2035 aktuellen Studien zufolge europaweit deshalb um etwa 20–50% an. Um die zunehmende Nachfrage zu bewältigen und den schrittweisen Ausstieg aus der Kernenergie aufzuwiegen, ist ein deutlicher Ausbau der Inlandstromproduktion aus erneuerbaren Energien notwendig. Der fortschreitende und gewünschte Ersatz fossiler Energieträger in der Stromproduktion macht jedoch die zuverlässige Bereitstellung von Strom immer herausfordernder, vor allem im Winter. Um die Versorgung sicherzustellen braucht es deshalb einerseits garantierte Importe sowie Energiesparmassnahmen. «Um die stark schwankende Produktion zwischen Sommer und Winter auszugleichen, werden künftig auch mehr Speichermöglichkeiten benötigt werden. Genau dazu könnte langfristig das Gasnetz vermehrt beitragen», ist Nadine Brauchli überzeugt. Es bietet die Möglichkeit, Gas zu speichern, welches durch Elektrolyse von überschüssigem Solar- und Windstrom produziert wurde (‹Power-to-Gas›). Dieses ‹ erneuerbare Gas› kann in der Mobilität und in der Industrie direkt genutzt werden. Entsprechend grosse Saisonspeicher vorausgesetzt, lässt sich damit künftig im Winter sogar wieder Strom produzieren. «‹Power- to-Gas-to-Power› ist derzeit jedoch leider noch nicht wirtschaftlich», klärt Nadine Brauchli auf. Über den Tellerrand Gerade in letzter Zeit wird erkennbar, wohin die Reise in der Energiewirtschaft führt – erwähnt sei hier beispielsweise der mit den Klimazielen einhergehende Kohleausstieg in Deutschland. Energiewirtschaftlich sei das eine grosse Aufgabe. Dessen ist sich Brauchli bewusst. Die Expertin ist daher überzeugt, dass die Sektorkopplung zeitnah ermöglicht werden muss. Allerdings fehle in der Energiepolitik eine gemeinsame Betrachtung aller Sektoren, bedauert sie. «Das erschwert ökonomisch und ökologisch sinnvolle Ansätze, um über Energieträger und -netze → WÄRME Wärmespeicher Fernwärmenetz Warmwasserpuffer Stromspeicher Batterien StRoM GAS Gasspeicher Gasnetz Röhrenspeicher Liquid Natural Gas (LNG) VERkEHR UnD tRAnSpoRt Kraftstoffspeicher

FACHTHEMA hinweg optimale Lösungen anzubieten.» In den verschiedenen Sektoren gelten historisch bedingt unterschiedliche Rahmenbedingungen, diese gelte es zeitnah aufeinander abzustimmen. Dabei wäre für die Expertin gerade jetzt der passende Zeitpunkt, die Gesamtbetrachtung in die Regulierungen einfliessen zu lassen, da momentan zahlreiche Gesetze und Verordnungen überarbeitet werden (wie CO2-Gesetzgebung, GasVG, Revision StromVG, Revision EnG). Heterogene Gesetzgebungen von Bund und Kantonen erschweren jedoch mitunter eine raschere Entwicklung. Was ist zu tun? Nadine Brauchli findet hierzu deutliche Worte: «Die Regelungen sind so auszugestalten, dass sie der Optimierung des Gesamtsystems, sowohl energetisch als auch volkswirtschaftlich, und der Versorgungssicherheit dienen. Der Wettbewerb zwischen den Energieträgern ist weder zu behindern noch zu verzerren.» Dazu benötigten die Akteure einerseits einen diskriminierungsfreien Netzzugang bei Strom und Gas, gibt die Expertin Aufschluss über die Voraussetzungen, und bedauert: «In einzelnen Kantonen werden Gasanwendungen aufgrund der energiepolitischen und regulatorischen Vorgaben unmöglich gemacht. Dabei sehen wir in erneuerbarem Gas durchaus Potenzial. Ein Technologieverbot verhindert neue Lösungen.» Analoge Rahmenbedingungen für die verschiedenen Energieträger würden einen Wettbewerb bei der Vermeidung von Treibhausgasen etablieren, ist Brauchli überzeugt. Ein einheitlicher, wirksamer CO2-Preis könnte hierbei ein zentrales Steuerungselement sein. Auch wenn sich der VSE ein marktnahes Lenkungssystem wünschen würde, in der Politik herrscht Zurückhaltung. Akzeptanz schaffen. Und neue Ausbildungsangebote. Nicht zuletzt sieht Brauchli eine Hürde in der fehlenden Akzeptanz beim Ausbau der erneuerbaren Energien. Man beobachte zwar derzeit eine grüne Welle. «Ob man aber wirklich bereit ist, die Energiewende mitzutragen, zeigt sich meist erst am konkreten Objekt. Die meisten wollen Windenergie, aber nicht vor der eigenen Haustüre.» Das Resultat sei bei fast jedem Vorhaben ein Einsprachemarathon, unterstreicht Brauchli, und gibt zu bedenken: «So kann es mit dem Umbau der Energieversorgung nicht vorwärtsgehen.» Ohne Fachkräfte keine Energiewende und keine Sektorkopplung. Der VSE setzt deshalb stark auf die Aus- und Weiterbildung, um Fachkräfte von morgen bereits heute auf die Herausforderungen der Zukunft vorzubereiten. Deshalb legt der Verband in seinen Aus- und Weiterbildungen auch mehr Gewicht auf die Vernetzung der Sektoren und auf das Vermitteln von Gesamtzusammenhängen. «Gas ist auch aus Sicht der Elektrizitätsunternehmen ein wichtiger Bestandteil in der Gesamtstrategie. In Zukunft wird es vermehrt erneuerbares Gas oder Biogas sein müssen.» 01| 2020 12 | 13

H2 Hyundai Hydrogen Mobility und Hydrospider bauen mit Tankstellenbetreibern sowie Logistik- und Handelspartnern ein in Europa einzigartiges industrielles Wasserstoff-Ökosystem auf. Die grösste Elektrolyseanlage der Schweiz zur Produktion von «grünem Wasserstoff» ist beim Alpiq Wasserkraftwerk Gösgen in Betrieb. GRÜNER WASSERSTOFF FÜR DEN SCHWERVERKEHR FACHtHEMA Seit einigen Wochen wird in Gösgen «grüner» Wasserstoff produziert. So viel, damit etwa 40 bis 50 Lastwagen ihre Waren tagtäglich emissionsfrei von A nach B transportieren können. 400 Normkubikmeter des Gases in hochreiner Form stellt die 2-MW-Elektrolyseanlage pro Stunde her, bis zu 300 Tonnen pro Jahr. Die dazu notwendige elektrische Energie wird ausschliesslich mit der Kraft der Aare produziert: «Damit ist die gesamte Kette komplett CO2-frei, denn bei der Umwandlung des Wasserstoffs in den Brennstoffzellen der LKW entsteht einfach wieder nur Wasser», freut sich Thomas Fürst, Geschäftsführer der Hydrospider AG. → Erfolgversprechende Kopplung der Sektoren Energie und Mobilität

FACHTHEMA Direkt beim Stromgenerator Ideal ist es, wenn die Power-to-Gas-Anlage (P2G) am Ort der Stromproduktion installiert ist. In Gösgen nutzt diese einen 10-kV-Abgang direkt am Generator einer der fünf 10-MW-Maschinen des Flusskraftwerks. Die 10 000 V werden auf 400 V transformiert und anschliessend gleichgerichtet. Acht Elektrolyse- Stacks, jeder nimmt rund 600 A davon ab, zerlegen das zugeführte Wasser in seine beiden Elemente Wasserstoff und Sauerstoff. In Gösgen setzt man hierfür auf die Protonen-Austausch-Membran-Technologie (PEM). Dieses Verfahren ist zwar sehr aufwändig, garantiert aber eine hohe Reinheit des Wasserstoffes von 99,9998% bei einem Ausgangsdruck von 30 bar. Zwischenspeicherung in Wechselcontainern In einem nachgeschalteten Kompressor wird das Gas auf einen Druck von 350 bar verdichtet und in Wechselcontainern zwischengespeichert: «In diesen Wechselcontainern wird das Gas an die Tankstellen geliefert», erklärt Thomas Fürst. Sie nehmen rund 350 kg Wasserstoff auf. Das ist ausreichend für ca. zehn LKW- Füllungen. Rund 370 l deionisiertes Wasser werden unter Volllast der Anlage pro Stunde in Wasserstoff und Sauerstoff aufgespalten. Für die Füllung eines Wechselcontainers werden demnach etwa 3 500 l Wasser «verbraucht», denn rund 8 bis 10 Stunden dauert es, bis einer der Container von der 2 Megawatt-Anlage gefüllt ist. Unglaubliche Energiedichte Wassersto� ist der Energieträger mit der höchsten gewichtsbezogenen Energiedichte: Er speichert 120MJ/kg, drei Mal mehr als Benzin, rund 150 Mal mehr als eine Lithium-Ionen-Batterie. Rund 1 200 kWh fasst demnach ein LKW-Tank, was für eine Reichweite von 300 bis 400 km sorgen soll. Auf der Anlage zeigt sich dazu ein eindrückliches Bild: Durch ein Edelstahlröhrchen mit einem Durchmesser von gerade einmal 12mm strömt sozusagen die gesamte Anlagenleistung in Form des Wasserstoffs in die Speicher. Die von der Anlage aufgenommene elektrische Leistung muss hingegen über einen Kabelquerschnitt von in Summe 1 600mm2 Kupfer zugeführt werden. Zukunftsmusik Ziel soll es sein, wo immer möglich in unmittelbarer Nähe der Tankstelle den Wasserstoff zu produzieren. Damit würde man sich den Transport dorthin ersparen, der heute noch mittels LKW erfolgen muss. Weitere Projekte sollen dies berücksichtigen. Ein Vorteil hierbei ist, dass die gesamte Installation in Gösgen skalierbar ist, denn die notwendige Technik ist modular in kompakten Containern aufgebaut: «Diese Überlegungen haben wir von Beginn an in unsere Planungen miteinbezogen, selbst wenn uns in Gösgen die räumlichen Möglichkeiten zur Expansion fehlen sollten», erklärt Thomas Fürst. Der Bau einer Tankstelle in Gösgen ist vorderhand nicht geplant. Die Wasserstoffproduktion wird auch als Flexibilität im Übertragungsnetz betrachtet, denn sie kann in Sekunden auf einen elektrischen Leistungsbezug von wenigen 10 Kilowatt heruntergefahren werden. Damit könnten die Anlagen zukünftig als netzdienliche Sekundärregelleistung eingesetzt werden. Technologie hat Potenzial Wassersto� böte im Grunde auch die Möglichkeit, überschüssigen Strom «zwischenzuspeichern». Noch aber ist die sogenannte ‹Roundtrip E�ciency› relativ gering, also der Wirkungsgrad bei der Umwandlung von Strom in Wassersto� und zurück in Strom. 40 Prozent sind derzeit erreichbar, 50 Prozent könnten es in Zukunft sein, sind sich Fachleute sicher. «Aber selbst ein geringer Wirkungsgrad ist immer noch besser, als künftig Photovoltaik- oder Windenergie-Anlagen vom Netz zu nehmen, nur weil gerade ein Strom-Überangebot besteht, welches nicht abgenommen wird», meint Thomas Fürst. Dann sei der Strom verloren, der Wirkungsgrad demnach null. «Grüner Wassersto� hilft uns bei der sinnvollen und e�ektiven Sektorkopplung.» Thomas Fürst, Geschäftsführer der Hydrospider AG 01| 2020 14 | 15

O2 H2O H+ H2 Bis zum Jahr 2025 will Hyundai in der Schweiz 1 600 wasserstoffbetriebene Brennstoffzellen-ElektroLastkraftwagen in Verkehr bringen. Das würde zudem rund 40 bis 50 weitere Anlagen in der Dimension von Gösgen erfordern. Das Interesse ist jedenfalls gross: Vor allem im regionalen Lieferverkehr, wo Reichweite und Nutzlast wichtig sind, spielt die Brennstoffzelle alle ihre Vorzüge aus. Sektoren gekoppelt «Grüner Wasserstoff ist der Schlüssel für eine sinnvolle und effektive Transformation von fossilen Brennstoffen hin zur emissionsfreien Brennstoffzellen- Elektromobilität.» Dessen ist sich Thomas Fürst sicher. In der Wissenschaft bestehe längst Konsens darüber, dass der CO2-Ausstoss reduziert werden muss. Nur Politiker meinten oft immer noch, der Klimawandel sei eine Glaubensfrage. PowertoGas (P2G) Zur langfristigen Speicherung elektrischer Energie ist die Power-to-Gas-Technologie vielversprechend: Sie nutzt potenziell überschüssigen Strom aus Sonnen- und Windenergie, um mittels Elektrolyse aus Wasser Wasserstoff zu gewinnen. Der Wasserstoff kann gespeichert werden und später in einer Brennstoffzelle wieder in Strom umgewandelt zu werden, um beispielsweise einen Fahrzeugmotor anzutreiben oder zur Erzeugung von Wärme genutzt werden. Er lässt sich auch ins Erdgas-Netz einspeisen, das bereits über eine flächendeckende Infrastruktur zur Verteilung und Speicherung verfügt. Wird wie in Gösgen der zur Elektrolyse benötigte Strom aus erneuerbaren Energien gewonnen, so ist die gesamte energetische Kette CO2-frei. Und: Der «Kraftstoff» ist absolut umweltfreundlich, denn sowohl das Ausgangs- wie auch das Endprodukt ist Wasser. Partnerschaft für die emissionsfreie Mobilität Hyundai Hydrogen Mobility ist ein Joint Venture zwischen der koreanischen Hyundai Motor Company und der Schweizer H2 Energy. Hydrospider ist ein Joint Venture der beiden Schweizer Unternehmen Alpiq und H2 Energy sowie der deutschen Linde. Gemeinsam mit dem Förderverein H2 Mobilität Schweiz entwickeln die Partner ein Geschäftsmodell für die emissionsfreie Mobilität von Nutzfahrzeugen. Dieses umfasst die gesamte Wertschöpfungskette: Brennstoffzellen-LKW von Hyundai, die Produktion von grünem Wasserstoff durch Hydrospider, die Planung zum Aufbau der notwendigen Betankungsinfrastruktur durch die Mitglieder des Fördervereins sowie die Logistik- und Transportunternehmen, welche künftig Brennstoffzellen-LKW einsetzen. Membran Kathode Anode

FACHtHEMA HALBVOLL ODER HALBLEER? FACHtHEMA Reserven im Stromnetz verfügbar machen 01| 2020 16 | 17 transfer

Der Ausbau erneuerbarer Energien wird derzeit weltweit gefördert, die zunehmende Elektrifizierung industrieller Prozesse und der Mobilität vorangetrieben. Man nimmt an, dass dazu ein Ausbau des Stromnetzes unumgänglich sein wird. Um diesen auf ein vertretbares Mass zu begrenzen, drängt es sich auf, vorhandene Potenziale intelligent zu nutzen. ‹Poweralliance› skizziert einen vielversprechenden Ansatz. «Mit Poweralliance führen wir brachliegende redundante Netzkapazität einer operativen und damit finanziellen Verwertung zu.» Yves Wymann, Head operations Digital Energy Solutions Switzerland, Alpiq Digital AG und Projektleiter von ‹Poweralliance› Das Dargebot der erneuerbaren Energien, vor allem von Sonne und Wind, schwankt stark. Um diese in die Stromversorgung integrieren zu können, werden künftig hohe Flexibilitäten im Netz benötigt. Nur so kann eine Verlagerung der Stromnachfrage auf Zeiten mit einem hohen Angebot aus der Produktion der Erneuerbaren gelingen. Heute findet dies praktisch nicht statt. Liegt ein Überangebot aus der Wind- und Solarproduktion vor, werden nicht selten die Stromerzeuger vom Netz genommen. Die Schweiz verfolgt das Ziel, die Stromerzeugung nahezu vollständig zu dekarbonisieren. Durch den damit verbundenen Verzicht auf fossile Energieträger und Atomkraft, muss die regenerative Erzeugung von Strom massiv ausgeweitet werden. Das bedeutet jedoch auch, dass die installierte Erzeugungskapazität das gleichzeitige Verbrauchsniveau um ein Mehrfaches übersteigen wird. Dies stellt eine grosse Herausforderung für das Stromnetz dar. Technologien wie Power-to-Heat (P2H) oder Power-to-Gas (P2G) drängen sich als Problemlöser auf: Einerseits, weil man sie nutzen kann, um überschüssige Energie zu absorbieren, andererseits deshalb, weil sie jederzeit bei Bedarf ihren Stromverbrauch reduzieren können. Will man den notwendigen Netzausbau auf ein vertretbares Mass reduzieren, sind jedoch intelligente Lösungen gesucht, mit welchen sich die entstehenden Potenziale zur Lastverschiebung auch nutzen lassen. → f r N e o d fi V D A

FACHTHEMA Poweralliance teilt die physische netzkapazität der Mittelspannungsebene in zwei Bereiche: Ein Band (gelb) zur Versorgung der unbedingten lasten mit hoher Versorgungssicherheit (‹n-1›), das zweite (blau) zur Versorgung der bedingten lasten. Der Verteilnetzbetreiber vergleicht die Summe der kundenfahrpläne mit der vorhandenen netzkapazität, akzeptiert diese (Netzampel auf ‹Grün›) oder weist sie zur Anpassung zurück (Ampel auf ‹Gelb›, Netzengpass). netzkapazität (%) tagesverlauf n-1 Sicherheit einfache Sicherheit 100 90 80 70 60 50 40 30 20 10 0 0 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 ‹Poweralliance›willimNetz­ vorhandene Reserven nutzen Stromnetze werden so ausgelegt, dass auch die grössten zu erwartenden Leistungsspitzen noch sicher übertragen werden können. Deshalb sind die heutigen Mittelspannungsnetze (Netzebene 5), von einigen wenigen Stichleitungen abgesehen, redundant ausgebaut. Man spricht hier von der ‹(n-1)-Versorgungssicherheit›. Im Grundsatz bedeutet dies, dass beispielsweise selbst beim Ausfall eines Netzstücks das Netz immer noch die prognostizierte maximale Leistung übertragen kann – ohne Unterbrechung der Versorgung. «Das heisst aber auch, dass Ringnetze im Normalbetrieb nur zu maximal 50 Prozent ausgelastet werden. Die andere Hälfte der Netzkapazivtät liegt brach», erklärt Yves Wymann, Head Operations Digital Energy Solutions Switzerland bei der Alpiq Digital AG und Projektleiter von ‹Poweralliance›. Durch die Verwendung dieser ungenutzten Ressource soll zukünftig der Netzausbau auf der Mittelspannungsebene vermieden, oder zumindest verzögert werden. Koppelt man die Nachfrage an das volatile Stromangebot, so Wymann, könne man durch die erhöhte Nutzung der Netzkapazität die Gesamtwirtschaftlichkeit verbessern und den Einsatz flexibler elektrischer Lasten fördern. So liessen sich leichter Flexibilitäten ins Netz bringen, die sowohl bei der Nachfrage als auch bei der Einspeisung netzdienlich sind. Zwei‹unterschiedliche›Lasten ‹Poweralliance› unterscheidet zwei Arten von Lasten entsprechend ihrem Anspruch an die Versorgungssicherheit. Zum einen sind dies ‹unbedingte Lasten›. Diese sind komplett bedarfsgetrieben und müssen damit ‹unbedingt› verfügbar sein. Dazu gehören beispielsweise Produktionsmaschinen, Beleuchtung oder Kommunikationssysteme. Die zweite Kategorie sind die ‹bedingten Lasten›. Dazu zählen beispielsweise die Technologien zur Sektorkopplung und Speicherung: Photovoltaik, Windenergie, Elektrolyseure (P2G), Batteriespeicher oder auch die Elektromobilität. Sie tolerieren eine geringere Versorgungssicherheit, ihr Einsatz ist vor allem strompreisgetrieben. Risiken, welche im seltenen Falle eines Versorgungsunterbruchs entstehen könnten, sind eher gering. Dies macht sich ‹Poweralliance› zu Nutze: «Die Idee ist, dass unbedingte Lasten durch den (n-1)-sicheren Teil des Mittelspannungsnetzes versorgt werden, während bedingte Lasten aus der heute unzugänglichen Redundanz bedient werden», erklärt Yves Wymann. Mehr IKT notwendig. Und ein anderes Tarifmodell! Damit ein intelligentes, netzdienliches Lastmanagement gelingen kann und die bedingten Lasten die Netzkapazität nicht überschreiten, benötigen die Verteilnetzbetreiber Informationen über deren Einsatz. Das ist per dato nicht der Fall. ‹ Poweralliance› löst dies geschickt: «Der netzdienliche Einsatz der Flexibilitäten erfolgt durch den Kunden selbst», erklärt Wymann den Ansatz. «Der Netzbetreiber gibt lediglich die Randbedingung vor: Er bietet Kapazitäten an und gibt abhängig davon Fahrpläne frei oder weist sie mit dem Hinweis auf notwendige Leistungskürzungen zur Änderung zurück.» Dazu brauche es jedoch für die bedingten Lasten, so Wymann, auch ein anderes Preismodell. Neben den weiterhin vom Markt bestimmten Energiepreisen soll für die weiteren Kostenanteile, also für Netz sowie Steuern und Abgaben, ein günstigerer Tarif zum Tragen kommen: «Damit ist für den Nutzer dann auch die ‹nur› n-sichere Versorgung für 01| 2020 18 19 |

«Poweralliance verdoppelt praktisch die Kapazität der Netzebene 5 – ohne physischen Ausbau.» die preisgetriebenen Flexibilitäten, wie Batteriespeicher oder Technologien zur Sektorkopplung, akzeptabel.» Noch bestehen aber zum einen die Rahmenbedingungen für eine Tari�reigabe nicht, diese müssten erst gescha�en werden. Zum anderen ist heute die Elektrifizierung industrieller Prozesse oftmals wirtschaftlich nicht sinnvoll. Entgelte, Abgaben, Umlagen und Steuern auf Strom sind wesentlich höher als beispielsweise auf Erdgas. «Wir weisen in unserem Schlussbericht darauf hin, dass ein neues Tarifierungsmodell notwendig ist, bei dem Steuern, Abgaben und Umlagen auf Energie die Dekarbonisierung fördern», bestätigt Yves Wymann. Die absehbaren Kosten für die notwendigen Informations- und Kommunikationstechnologien (IKT), welche mit dem Poweralliance-Ansatz entstehen, sind heute schon bei der Tarifgestaltung anrechenbar. Die heutigen Regularien lassen jedoch Zusatzeinnahmen des Netzbetreibers durch die bessere Auslastung der redundanten Netzkapazität nicht zu. Sie müssten entsprechend umgewälzt werden können, was eine finanzielle Beanreizung unterbindet. Ein elegantes Konzept Fachleute sind sich darüber einig, dass die Elektrifizierung des Wärme- und Verkehrssektors auf Basis erneuerbarer Energien eine Grundvoraussetzung ist, um den Klimawandel zu begrenzen. Mit ‹Poweralliance› erhalten elektrische Lasten, welche diesen Systemwandel begünstigen, einen wirtschaftlichen Vorteil. Bei vorhandener Netzkapazität helfen sie, Überschussstrom zu absorbieren und verhindern so die Zwangsabschaltung der Stromerzeugung aus erneuerbaren Energien. Einnahmen aus dem bisherigen ‹System› werden praktisch nicht tangiert, hingegen entstehen aus der erhöhten Netznutzung mit bedingten Lasten zusätzliche Erträge. «Und auch volkswirtschaftlich betrachtet könnte ‹Poweralliance› zum Erfolgsmodell werden: Brachliegendes Vermögen wird genutzt und durch den intelligenten Einsatz von IKT lassen sich die Netzausbaukosten auf ein erträgliches Mass reduzieren», fasst Yves Wymann zusammen. So einfach: Im Grunde ist das bereits vorhandene Übertragungsnetz nur halbvoll – oder eben doch meist halbleer. Power Alliance Power Alliance ist ein durch das Bundesamt für Energie BFE, dem deutsche Projektträger Jülich PTJ und der österreichischen Forschungsförderungsgesellschaft FFG gefördertes trinationales Projekt unter der Leitung der Schweizer Alpiq AG. Am Projekt mitgewirkt haben drei Schweizer Hochschulen (FHNW, ZHAW und HSLU), verschiedene Technologiepartner sowie ein Schweizer und ein deutscher Verteilnetzbetreiber mit ihren Pilotkunden. Weitere Informationen enthält der im November 2019 erschienene Schlussbericht, der beim BFE eingesehen werden kann: www.aramis.admin.ch/Texte/?ProjectID=38204

FACHTHEMA Mit dem Projekt ‹Quartierstrom› entstand in Walenstadt der erste lokale Strommarkt der Schweiz. Im Rahmen eines zunächst befristeten Leuchtturmprojekts des Bundesamts für Energie handelten 37 Haushalte untereinander ihren lokal produzierten Solarstrom. Das Ziel: den eigenen Strom möglichst innerhalb des Quartiers zu verbrauchen. Christian Dürr vom Wasser- und Elektrizitätswerk Walenstadt (WEW) ist überzeugt, dass sich aus diesem Modell für Versorger Chancen entwickeln – wenn man dazu bereit ist, sie zu nutzen. Stromversorgung von morgen: Walenstadt macht’s vor DER HANDEL IM WANDEL FACHtHEMA 01| 2020 21 20 |

Idealer Markt im Besitz der Kunden Die Strommarktö�nung steht vor der Tür. Dessen ist sich Christian Dürr, Geschäftsleiter des WEW, sicher. Da die Kilowattstunde Energie hochspezifiziert ist, könne die Di�erenzierung nur über den Preis stattfinden. Für Stromversorger ist dieser Markt nicht lukrativ. Dürr kommt aus der Industrie, ist vertraut mit Kundenbedürfnissen und schlanken Prozessen. «Seit der Abscha�ung der kostendeckenden Einspeisevergütung (KEV) möchte man seinen Strom möglichst selbst verbrauchen», erklärt er den zündenden Gedanken hinter dem Projekt ‹Quartierstrom›. Das Projekt möchte den Weg von der Produktion zum Verbraucher so weit als möglich verkürzen und so die Kosten für Stromkunden senken. Hierzu wurde ein Testmarkt zum lokalen Stromhandel im Quartier ‹Schwemmiweg› in Walenstadt etabliert. Der Markt baut auf bestehender Infrastruktur im Besitz der Kunden des WEW auf. Die involvierten Photovoltaikanlagen liefern jährlich rund 300 000 kWh Strom, der Bedarf im Quartier beträgt etwa 250 000 kWh. «Einzig die Flexibilität fehlte noch. Fünf Eigentümer investierten bereits im Vorfeld des Projekts in eine Batterie, während des Projekts kamen nochmal vier weitere Speicher dazu», erzählt Dürr. Im Rahmen des Projekts wurden in den teilnehmenden Haushalten insgesamt 75 Messgeräte installiert, die für den Handel nötig waren. Das Elektrizitätswerk selbst nahm ebenfalls am lokalen Strommarkt teil. Es kaufte überschüssigen Solarstrom und lieferte Netzstrom, wenn im Quartier zu wenig produziert wurde. Ebenso stellte es die Netzinfrastruktur zwischen den Haushalten zur Verfügung. DieWeb-Oberflächevon‹Quartierstrom›­ vermittelt Daten anhand allgemein bekannterGrössenundübersichtlicherDiagramme. Das stärkte das Verständnis der Nutzer für die Strombranche. «Unsere Kunden im QuartierstromProjekt sind wirklich stromaffin geworden.» Christian Dürr, Dipl. El.-ing. FH/nDS, Geschäftsleiter, Wasser- und Elektrizitätswerk Walenstadt →

FACHTHEMA Strom anders denken Die initiale Idee für das ‹Quartierstrom›-Modell entstand aus einem Projekt an der ETH Zürich, das den Mehrwert von lokalen Strommärkten gegenüber heute gängigen Einspeisemodellen untersuchte. Zusammen mit den heutigen Projektpartnern ZHAW und Cleantech21 gingen die Forscher auf das WEW zu. Andere waren skeptisch, Christian Dürr erkannte die Chancen durch einen lokalen Strommarkt jedoch sofort – auch wenn durch die vermehrte Verbreitung von Solaranlagen ein Teil des Umsatzes für Versorger entfällt: «Als Installateur bist du beim Kunden im Haus, baust eine gute Beziehung und Vertrauen auf. Das ist hilfreich. Und die Anlage muss ja gewartet werden, irgendwann wird sie neue Paneele benötigen», gibt er zu bedenken. Die Solaranlage sei zudem häufig nur der erste Schritt für weitere Investitionen: Oft folgten Überlegungen über den Ersatz der Ölheizung mit einer Wärmepumpe, Elektromobilität werde attraktiver, Batterien kämen auf den Plan. Die eigene Produktion und diverse elektrische Verbraucher bedürfen mitunter einer Optimierung, so kommen Steuerungen ins Spiel. Auch die Betreuung der dafür notwendigen Messgeräte und die Interpretation der Daten können für Versorger attraktive Folgegeschäfte sein. Mit einer entsprechenden Offenheit gegenüber Entwicklungen wie diesen sieht der Elektroingenieur weiterhin eine Daseinsberechtigung für Elektrizitätswerke. Überlegungen wie die des Projekts ‹Quartierstrom› bedingen neue Geschäftsmodelle. In der Branche müsse dafür noch viel Umdenken stattfinden. Das heute übliche statische Tarifmodell blieb in der über 100-jährigen Stromwelt weitgehend unverändert. Technologische Entwicklungen wie Batterien oder E-Mobilität erforderten jedoch ein angepasstes Verrechnungsmodell: «Bei gleichbleibenden Strompreisen muss ich als Nutzer nichts schalten, und ich muss auch nichts speichern. Der Strom kostet in 10 Stunden gleich viel wie jetzt», bringt es Dürr auf den Punkt. Deshalb wünscht sich der Geschäftsleiter eine verursachergerechtere Abrechnung. «Heute zahlt man bei jeder bezogenen Kilowattstunde anteilsmässig die Netzebenen 1–7 mit. Das ist nicht wenig.» Das sei unter anderem dem Fokus auf die Versorgungssicherheit geschuldet. Dadurch kann die Schweiz heute zwar auf ein sehr sicheres Stromnetz vertrauen. Kostene�zient sei dieses Denken hingegen nicht unbedingt, ist der Ingenieur überzeugt. Einfach und effizient handeln Mit dem Pilotprojekt, das im Januar 2020 endete, wollte Christian Dürr diese Effizienz an die Kunden im Quartier ‹Schwemmiweg› weitergeben. «Mir ist es sehr wichtig, den Kunden ins Zentrum zu stellen», betont der Geschäftsleiter. Das WEW entwickelte deshalb gemeinsam mit der Hochschule St. Gallen und der ETH «Das derzeitige Zwischendrin ist für niemanden optimal. Entweder wir bleiben im Monopol, dann aber extrem schlank – oder wir machen Markt, wo man als Anbieter stets innovativ und kundenfreundlich sein muss, um zu überleben.» Christian Dürr, Dipl. El.-ing. FH/nDS, Geschäftsleiter, Wasser- und Elektrizitätswerk Walenstadt 01| 2020 22 | 23

Zürich eine interaktive Web-Anwendung für den lokalen Handel im Quartier. Dort gaben die teilnehmenden Haushalte ihre individuelle Preisvorstellung an: wie viel sie bereit waren, für den Bezug von Sonnenstrom zu bezahlen – und zu welchen Konditionen sie ihren produzierten Strom abgaben. Weltweit einzigartig ist der All-in-Ansatz des Projekts: Neben der Energie selbst waren auch Infrastruktur, sämtliche Abgaben sowie der ökologische Mehrwert Teil der festgelegten Preise. Nach jedem Lastgang, sprich alle 15 Minuten, erfolgte der Handel zwischen Produzenten und Konsumenten. Der individuelle Preis richtete sich nach Angebot und Nachfrage am Markt. Kam am lokalen Markt z. B. aufgrund fehlender Verfügbarkeit von Solarstrom kein Handel zustande, bezahlte der Konsument die Einspeise- und Bezugspreise des Versorgers. Jeder Handel wurde sicher auf Basis einer Blockchain durchgeführt, die Teilnehmenden selbst waren dabei nicht erkennbar. Die Abrechnung erfolgte weiterhin halbjährlich über das WEW in Schweizer Franken, wobei der lokal gehandelte Strom separat ausgewiesen wurde. Die Einsparungen während des Projektzeitraums betrugen pro Haushalt im Schnitt immerhin 218 Franken gegenüber dem bisherigen Bezugsmodell. Das Konzept soll nach Ende des Initialprojekts fortgesetzt werden – im Gegensatz zum bisherigen Ansatz allerdings mit automatisiert festgelegten Preisen. Ein Test während des Projekts hat gezeigt, dass die Effizienz des Verbunds noch gesteigert werden konnte, wenn ein Algorithmus die produktionsbedingten Preise festlegte. «Für die Zukunft macht es daher Sinn, den Handel komplett zu automatisieren», erklärt Arne Meeuw, der die Blockchain-Architektur im Projekt für die Hochschule St. Gallen entwickelte. «Freie Schweiz»? Eine geografische Ausweitung auf eine grössere Region wäre für Christian Dürr eine spannende Sache. Dafür müssen indes noch einige Voraussetzungen geschaffen werden. «Beim weiteren Ausbau ist es wichtig, neben der dynamischen Preisgestaltung des Energiebezugs auch die Infrastruktur dynamisch zu tarifieren», so der Geschäftsleiter. Eine zunehmende Nutzung erneuerbarer Energien bei der Ausweitung des Modells bedingt einen Ausgleich durch andere Energieformen. Eine sinnvolle Mischung aus Kurzzeit-, Monats- und Langzeitspeichern unterschiedlicher Energieformen mit verschiedenen Aggregationszeiten müsste nach Ansicht von Christian Dürr genutzt werden. Nur so liesse sich die heute durchgehend verfügbare und wetterunabhängige Bandenergie der Atomkraft ersetzen. Bei einer geografischen Erweiterung des Konzepts müsse man sich zudem Modelle überlegen, um die Datenmenge zu begrenzen, gibt Arne Meeuw zu bedenken. Ein Markt mit einzelnen Bilanzkreisen könnte eine mögliche Lösung darstellen, wobei die Datenbasis jedes Kreises vom entsprechenden Energieversorger abgerechnet wird. Aber auch Gesetze müssten angepasst werden. «Wir bewegten uns mit dem Projekt regulatorisch auf dünnem Eis. Mit den heutigen Bestimmungen ist diese Art der Verrechnung nicht vollkommen gesetzeskonform», stellt Dürr klar. Er sieht immerhin Licht am Horizont. Das Departement für Umwelt, Verkehr, Energie und Kommunikation und das Bundesamt für Umwelt beschäftigten sich bereits mit dem Thema. Und nachdem auch internationale Medien über das Projekt berichtet hatten, sind inzwischen zahlreiche Elektrizitätswerke auf das Team rund um Christian Dürr zugegangen. Das Interesse scheint geweckt. Den ausführlichen Bericht und weitere Details finden Sie unter rittmeyer.com/quartierstrom Quartierstrom ‹Quartierstrom› ist ein vom Bundesamt für Energie (BFE) gefördertes Leuchtturmprojekt. 37 Haushalte des Quartiers ‹Schwemmiweg› in Walenstadt handelten ihren überschüssigen Strom aus den eigenen Solaranlagen direkt in der Nachbarschaft. Über den Projektzeitraum konnten im Schnitt rund 60% des selbsterzeugten Stroms innerhalb des Quartiers konsumiert werden. Das Projektkonsortium unter der Leitung des ‹Bits to Energy Lab› an der ETH Zürich umfasst neben der Universität St. Gallen und dem Wasser- und Elektrizitätswerk Walenstadt noch weitere Forschungs- und Industriepartner. Mehr Informationen zum vollständigen Projektkonsortium und Live-Daten unter www.quartier-strom.ch Die zugrunde liegende Blockchain- Technologie kurz und bündig in einem Video erklärt: youtu.be/ZU8pMQfnTq0

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